Kleine Schiffe
dreißig Stunden am Stück, vom Silvestermorgen um zehn Uhr bis Neujahr um vier Uhr am Nachmittag, weil nach der Silvesterparty auch noch das Neujahrsbüfett angerichtet werden musste.
Mama litt unter einer Herzkrankheit. Ich habe mir als Kind immer vorgestellt, dass ihr Herz zu schwer wurde. Ich sah es vor mir – wie ein großes, atmendes Radieschen, das in ihrer Brust immer größer wurde und sie schließlich in die Tiefe zog. In ihr Grab, dachte ich damals. Sie war eine so kleine, zarte Person, dass ich sie schon mit zwölf Jahren um einen halben Kopf überragte.
Mama war alles, was ich nicht bin. Sie war zart, ich bin kräftig. Sie war sehr musikalisch, ich traute mich nur, im Schulchor zu singen. Sie wollte Malerin werden und wurde Zeichenlehrerin, ich bin Arzthelferin. Sie liebte Gedichte und zitierte ständig Verse. Ich lese zwar hin-und wieder einen Roman, aber nur noch selten Lyrik. Die schönsten Gedichte habe ich sowieso durch Mama im Kopf. Oder im Herzen. Und dann lese ich natürlich Bastelanleitungen in Zeitschriften oder den Fernsehteil in der Tageszeitung.
Ich habe keine einzige Pflanze in meiner Wohnung, Mama hatte einen grünen Daumen. Sie hat unseren Garten in der Bebelallee hingebungsvoll angelegt und gepflegt: Neben einem kleinen Apfelbaum und einem großen alten Birnbaum gab es Rhododendren, Pfingstrosen, Flieder, Forsythien und sogar eine Zaubernuss. Als feststand, dass sie nicht mehr aus dem Krankenhaus zurückkommen würde, holzte mein Vater in einer Nachtaktion alle Büsche im Garten ab. Nur den Birnbaum und das Apfelbäumchen rührte er nicht an. Ich wachte vom Geräusch der Motorsäge auf, lief zum Fenster und sah meinen Vater im Schein der Neonröhre, die über der Terrasse angebracht war, mit der Säge hantieren. Als sich ein Nachbar über den Lärm beschwerte, schrie mein Vater ihn so wild an, dass er sofort seinen Kopf einzog, die Fenster schloss und die Rollläden herunterließ. Danach wandte sich Papa der Zaubernuss zu, und ich schlich mit klopfendem Herzen zurück ins Bett.
Nach Mamas Tod zogen wir in eine Wohnung in Altona, in die Nähe der Elbe. Dort gab es keinen Garten, aber ich konnte den Anblick der abgeholzten Büsche nie vergessen. Papa hörte bei dem Nobelrestaurant auf – viel zu spät für Mama, dachte ich damals. Er wechselte in die Betriebskantine der Beiersdorf AG. »Bei Nivea«, wie Papa immer ein wenig abschätzig sagte, weil seine neue Arbeitsstätte natürlich nicht halb so glamourös war wie das Restaurant an der Elbe. Und er sagte es auch, weil er schon damals ein notorischer Nörgler war. Dabei arbeitete er gern in der modernen Kantine und suchte sich später eine Wohnung in Eimsbüttel, in der Nähe des Beiersdorf-Werks.
Seine ehemaligen Arbeitskollegen und Freunde, Rudi und Helmut, mit denen er ständig zusammen ist, wohnen auch in dem Viertel, und ich sehe die beiden fast genauso häufig wie Papa. Die Brüder sind wie er Mitte siebzig und sehen einander zum Verwechseln ähnlich: Beide haben kurze weiße Haare, einen kleinen Bauchansatz unter ihren buntgemusterten Freizeithemden und tragen goldgeränderte Brillen. Rudis – oder Helmuts? – Frau hat sich vor Jahren von Rudi – oder Helmut? – getrennt, während Helmut – oder Rudi? – ein ewiger Junggeselle ist. Papa mit seinen grauen Locken und den Rollkragenpullis sieht in Gesellschaft der beiden immer ein bisschen deplaziert aus, finde ich. Sie ziehen ihn manchmal als »feinen Pinkel« auf. Damit spielen sie auch auf Papas ehemalige Stellungen als Chefkoch in schicken Restaurants an. Aber es klingt mehr nach Hochachtung als nach Häme.
Dass ich mich wirklich scheiden lassen und sogar in seine Nähe ziehen würde, fand Papa also wunderbar – und ich frage mich inzwischen, ob es richtig war. Natürlich konnte er die Gelegenheit nicht auslassen, auf mir herumzuhacken. »Hat Andreas inzwischen eine andere?«, muffelte er in den Kragen seines dicken Rollkragenpullovers, den er am liebsten auch im Hochsommer tragen würde. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und lehnte mich an die Wand seiner Küche. Sie ist stets aufgeräumt, es gibt keine Flecken, keine Krümel, keine Glasränder, sondern nur aseptische Sauberkeit. Ist wohl eine Berufskrankheit – und die Erklärung dafür, dass in meiner Küche das Chaos herrscht. Denn mit jeder vergessenen Kartoffelschale, jedem nicht abgewaschenen Hackbrettchen, jedem Soßentropfen feiere ich den Ungehorsam gegen meinen perfekten Vater.
»Du mochtest
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