Kleine Suenden zum Dessert
1
Es war ein strahlender Morgen Ende Juli, als Grace Tynan ihre Straßenkarte der County Meath entfaltete. Die Topographie der Grafschaft erinnerte sie an Frankreich, und automatisch dachte sie an Weinberge und kleine, voll besetzte Straßencafés. Und Baguettes. Goldbraun und ofenwarm. Und Crêpes, vielleicht mit Schlagsahne und Puderzucker ... oh, sie wünschte, sie hätte sich heute früh Zeit zum Frühstücken genommen.
»Reiß dich zusammen«, ermahnte sie sich. Sie führte häufig Selbstgespräche beim Autofahren. An manchen Tagen waren es die einzigen vernünftigen Gespräche. Sie holte eine Tüte Cheesy Crisps aus dem Handschuhfach und riss sie auf. Es war eine der Gratisproben, die Ewan ständig anschleppte. Gratisproben waren eine Vergünstigung, die sein Job mit sich brachte. Wobei das mit der Vergünstigung so eine Sache war - die Kiste mit Mega Curry Beans war immer noch nicht leer.
Gott sei Dank - da kam ein alter Mann auf einem Fahrrad. Sie kurbelte das Fenster herunter und hupte begeistert. »Guten Tag!«
Sie hatte ihn kalt erwischt, und sein Rad geriet beängstigend ins Schwanken.
»Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich. »Ich bin nur so froh, Sie zu sehen. Es ist nämlich ... ich habe mich offenbar verfahren. Können Sie mir sagen, wie ich nach Hackettstown komme?«
Der Blick, mit dem er sie musterte, verursachte ihr Unbehagen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, auf einer verlassenen Landstraße einen wildfremden Mann anzusprechen - vor allem in diesem Luxusschlitten und mit der Handtasche auf dem Beifahrersitz. Das war ja geradezu eine Aufforderung, sie zu überfallen. Sie würde nie wieder mit Lisa das Auto tauschen. Wahrscheinlich stimmte es gar nicht, dass sie sich einen Weisheitszahn ziehen lassen musste. Graces Berechnung nach wäre das der fünfte! Doch der Mann sagte nur: »Wenn Sie wirklich dahin wollen, dann fahren Sie noch zwei Meilen geradeaus, biegen an der Kreuzung links ab und an der nächsten rechts.« Mit einem »Viel Glück!« trat er wieder in die Pedale.
»Ich danke Ihnen!« Sie notierte sich seine Angaben auf der Rückseite eines Briefumschlags, denn wenn es um Wegbeschreibungen ging, konnte sie sich nicht auf ihr Gedächtnis verlassen. Sie war schon genug gefordert mit den Terminen der Schulfahrgemeinschaft, bestimmten Dingen, die sie im Supermarkt besorgen musste, und sage und schreibe neun PINs. Ach ja - da waren ja auch noch die verdammten Pässe! Sie würde Ewan anrufen müssen, sonst dächte er bestimmt nicht daran. Ein Hirn wie ein Sieb, ihr Ewan. Aber es war nicht immer so gewesen. Sein Erinnerungsvermögen schien sich im Laufe der Jahre verschlechtert zu haben, während ihres sich verbesserte, eine Entwicklung, die für ihn bequem war, wie ihr nicht entgangen war.
Hackettstown. Partnerstadt von Wart-Hausen.
Grace fuhr langsam an dem Ortsschild vorbei und eine hässliche Hauptstraße entlang, die sich mit Läden wie Go West Fashions und Brenda‘s Unisex Salon (montags 20% Ermäßigung auf Trockenschnitte) brüstete. Aber weiter oben gab es eine hell erleuchtete SPAR-Markt-Filiale und einen ganz hübschen, kleinen Platz mit Rosen in der Mitte. Allerdings waren ein paar Teenager gerade dabei, ihnen die Köpfe abzureißen und sich gegenseitig mit Taschenmessern zu bedrohen. Sie folgten dem silbernen BMW mit neidischen Blicken, als er lautlos vorüberglitt.
»Guten Morgen!«, rief sie ihnen ein wenig nervös zu und fuhr weiter.
Bridge Road 17 lag am Ortsrand. Es stand kein Auto in der Einfahrt, und das Haus wirkte verlassen. Grace parkte und zog den Zündschlüssel ab, womit sie das auf einen Sender nach dem Geschmack ihrer Söhne eingestellte Radio mitten im hämmernden Bumm-Bumm abwürgte. Sie hatte sich diesen Krawall nur angehört, weil eine der Mütter ihr am Schultor erzählt hatte, dass die ganze Klasse auf bestimmte Songs über Sex und Drogen abfuhr. Doch Grace war auch nach Wochen noch in keinem einzigen Song eine anstößige Formulierung begegnet. Wenn man von »deiner war lecker« absah, was sie einmal gehört hatte, aber es war ihr zu peinlich gewesen, um den anderen davon zu berichten. Außerdem war sie gar nicht sicher, dass wirklich damit gemeint war, was sie vermutete. Und dann ging ihr die Textstelle nicht mehr aus dem Kopf: deiner war lecker, deiner war lecker! Und das passierte einer verheirateten Frau, einer Mutter, von der man nicht erwartete, dass sie an Sex dachte! (Warum wollte sie dann die CD kaufen?)
Zehn vor neun. Gut. Sie war
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