Kleines Lexikon der Reise-Irrtuemer
NACH AFGHANISTAN KANN MAN NICHT ALS TOURIST REISEN
Zwar ist Afghanistan derzeit alles andere als ein idyllisches Reiseziel, aber Sightseeingreisen nach Afghanistan sind möglich und lassen sich sogar recht unkompliziert organisieren. Deutsche Staatsbürger erhalten das nötige Visum bei der afghanischen Botschaft in Berlin oder dem Konsulat in Bonn für 30 Euro, ohne viele Fragen beantworten zu müssen. Mit dem Flugzeug kann man Afghanistan in elf Stunden ab Deutschland erreichen, man muss nur einmal umsteigen. Und es gibt einen Afghanistan-Reiseführer von Lonely Planet, der 2007 erschien.
Verschiedene europäische Reiseveranstalter haben geführte Afghanistan-Gruppenreisen im Programm (nicht nur pro forma, solche Reisen werden tatsächlich durchgeführt). Die englische Agentur Hinterland Travel verspricht ihren Kunden »echte Abenteuer«, ihr Afghanistan-Programm umfasst unter anderem die dreieinhalbwöchige Rundreise »Zentral- und Nordafgha- nistan« mit Stationen in Jalalabad, Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif.
Machbar sind aber auch individuelle Afghanistan-Reisen, wie der Fall meines Kollegen Michael Scholten zeigt, der im Jahr 2010 für eine Woche dort war. Das Schicksal bescherte ihm eine türkischstämmige Reisepartnerin, die beiden gaben sich als Ehepaar aus. Scholten schlüpfte in die Rolle des Sohnes eines Türken und einer Schweizerin, hatte in der Tasche stets einen kleinen Koran und im Gedächtnis »Allah ist groß« auf Da-ri, der Landessprache, damit er im recht wahrscheinlichen Fall einer Entführung als Muslim durchgehen konnte. Als Unterkunft wählten die beiden ein Kabuler Hotel unter türkischer Leitung, das ihnen einen jungen Afghanen als Betreuer und Stadtführer vermittelte.
Sie begannen ihr Programm am touristischsten Punkt der Hauptstadt, der Chicken Street, wo die Geschäfte Kunsthandwerk, Souvenirs und Postkarten anbieten. Bald wagten sie sich auch ins Getümmel der lokalen Märkte. »Überall wurden wir zum Tee eingeladen oder um Fotos gebeten«, berichtet Michael Scholten. »Afghanische Männer und Kinder lieben es, fotografiert zu werden.«
In Begleitung ihres Stadtführers besuchten die Reisenden das Nationalmuseum und die Nationalgalerie, den traditionellen Vogelmarkt, die ausgebombte Ruine des Sommerpalastes von König Amanullah. Bei der Zitadelle Bala Hissar, mit beeindruckendem Blick auf Kabul und die umliegenden Berge, kam es zu einer Begegnung der seltsamen Art. Erstmals trafen Scholten und seine Reisepartnerin andere westliche Touristen, die ihre Tour über einen professionellen Veranstalter gebucht hatten. Sie reisten in gepanzerten Jeeps, trugen kugelsichere Westen, hatten Geleitschutz mit Maschinengewehren.
Zum Reiseglück des vermeintlich türkisch-schweizerischen Ehepaares aus Deutschland trug vor allem die afghanische Gastfreundschaft bei. So lud ihr Autovermieter die beiden zu seiner Zweitfrau und -familie in die Stadt Mazar-i-Sharif ein, die sie per Inlandsflug erreichten. Hier sahen sie die einzigen Bundeswehrsoldaten ihrer Reise und besichtigten die größte Sehenswürdigkeit des Landes, die Blaue Moschee. Im Hause ihrer Gastgeber wurden die beiden getrennt: Sie kam zu den Frauen und Kindern, er in den Männertrakt des Hauses, wo ihn bärtige Afghanen in weiten Gewändern erwarteten, um mit ihm Wasserpfeife zu rauchen und viele neugierige Fragen zu stellen – einer der Afghanen sprach ein wenig Englisch.
Wer doch lieber in einer begleiteten Gruppe durch Afghanistan reisen will, kann dies auch mit dem Veranstalter Babel Travel tun. Der neue Anbieter auf dem Afghanistan-Pauschalreisemarkt hat seinen Sitz in der Schweiz und wird von einem Australier geführt. Auf dem Programm stehen neben Architektur- und Natur-Sightseeing auch Begegnungen mit Einheimischen, Besuche in sozialen und kulturellen Einrichtungen, Gespräche mit Soldaten und Mitarbeitern nicht staatlicher Organisationen. Die Afghanistan-Rundreisen von Babel Travel finden in Gruppen von maximimal zwölf Personen statt, außer dem Fahrer und der Reiseleitung begleiten bis zu fünf bewaffnete Sicherheitsleute die Teilnehmer. Babel Travel empfiehlt den Abschluss einer Entführungs-, Lösegeld- und Erpressungsversicherung. 1
Als Reisejournalistin und Autorin dieses Buches empfehle ich trotz allem grundsätzlich keine Reisen in Länder, vor denen das Auswärtige Amt warnt. Das Auswärtige Amt spricht Reisewarnungen nur selten aus, und zwar für Länder, in denen es »eine akute Gefahr für Leib und Leben«
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