Klemperer, Viktor
jetzt in kleinster Kochkiste den Zusamenhang mit Fabrikanten u. Publikum aufrecht. Ehrlichste Don Quijoterie verwichtigt u. vergoldet Sterns Existenz, u. außerdem ist der * Bub da, der jetzt bei der OT in Osterode Dienst tut. – * Eva spielte lange Zeit * Haydn 2 vor. – Wir hatten überraschenderweise eine Abendbrod-Einladung (von * Bernhard St. in schön gemalter Schrift ausgeführt) zu Stühlers erhalten, u. noch überraschender war der Prunk der Bewirtung. Am Nachm. hatten uns Sterns erzählt, daß für eine Gans bis zu zwölfhundert Mark gezahlt werde, u. bei Stühlers gab es eine richtige Gans; das an mich fallende Keulchen, fraglos eher 100 als 50 gr u. die Fettsauce bedeuteten für mich etwas seit Jahren Unbekanntes, ein wirkliches Ereignis. Natürlich war es ein zeitcharakteristischer Vogel: 1) aus Bayern geschickt, 2) bei * Tante Lo zubereitet – ich habe ihr ein paar Briketts dazu gegeben, um hier Kohlen Gas zu sparen, sagte Frau St., aber der wahre Grund der Außenherstellung war das Geheimhalten vor * Frau Cohn im besondern u. der Judenheit im Allgemeinen. Wir saßen lange zusamen, es wurde harmlos geplaudert, sogar vergnügt, bei Bernhard war diese Fröhlichkeit fraglos echt – wieweit auch bei der Mutter ließ sich nicht feststellen, aber sehr verzweifelt ist sie bestimmt nicht mehr. Auf der Commode stand eine eben jetzt vergrößerte Photographie des * Mannes. Merkwürdig: im Leben hat er mehr wie ein kleiner zäher dunkler Oberbayer als wie ein Jude ausgesehen; u. diese vergrößerte Photographie könnte ein Zerrbild aus dem Stürmer sein, ein feixender Schacherjude mit weit abstehenden Ohren. Problem: gibt die Photographie verborgene absolute Wahrheit, oder fälscht betrügt sie? Beides muß der Fall sein, es ist eine dunkle Angelegenheit. Dunkel ist mir auch die Finanzlage der Stühlers. Bernhard samelt, von den Eltern unterstützt, eifrig Marken, teils aus Liebe zur Sache, teils um wertbeständig oder gar mit Wertzuwachs zu sparen. Es ist eine sehr verbreitete aber doch wohl unsichere Spekulation, die seit dem ersten Weltkrieg ( * Hamecher! 1 ) über alles Sonstige hinweg modern geblieben ist. Die Mutter hatte dem Jungen ein paar Frankreichmarken für etliche fünfzig Mark gekauft. Sie hatte auch aus den zwangsweise abgelieferten Sachen des Mannes einen Mantel für Bernhard zurückgekauft u. mit 55 Mark bezahlt. Sie selber kann für ihre Halbtagstätigkeit als Verkäuferin nur sehr wenig bekomen, der Mann ist Confektionsreisender gewesen – was kann er groß u. beiz erspart u. beizeiten der Frau gesichert haben? – – Noch ist ein Weihnachtsbäumchen zu erwähnen, das wohl auch von Tante Lo stammte. Das beste an diesem Abend war wohl, daß ein von * E. vorbereitetes Essen auf heute bleiben konnte, u. so eine Entlastung des heutigen Tages ergibt; das Schlimmste, daß E. s Nerven wieder ganz versagten u. sie mit einem Ohnmachtsanfall kämpfte. – –
Zur LTI . Ganz hat Fanatismus auch bei den Natsoc. seinen pejorativen Sinn nicht einzubüßen vermocht. Ich erwähnte dieser Tage in einem * Goebbelsartikel wirrköpfigen Objektvitätsfanatismus.
Sehr langsam aber mit größtem Interesse kome ich im * Colin Roß weiter.
Während dieser Notiz war schon wieder Alarm. Ich ließ mich nicht stören, u. es blieb beim kellerlos kleinen. Dieser zweite Alarm also ca 13 25 –13 40 .
26. Dezember, Dienstag Abend 19 h.
Auch heute wieder Alarm (ohne Keller), Mittags 12–12 35 , während * E. bei * * Glasers u. ich beim Kohlrübenschälen war. – Eben vom Weihnachtskaffee bei * Steinitz zurück (jetzt ist schon Ersatzkaffee Festgetränk.) Einziger charakteristischer Satz: St. erzählte, * Frau Waldmann habe entrüstet gesagt: Alle sind sie doch Schieber – es riecht nach Gänsebraten! Und dabei hatte * Frau Stühler ihre Gans doch bei * Tante Lo herrichten lassen u. ihr im eigenen Gasofen nur den letzten Schliff gegeben. Der Ausspruch u. seine Verbreitung – u. daß wir dazu schwiegen! – alles ist so charakteristisch für die Zustände hier. – Im übrigen herrschte gedämpfte, bedrückte Festfreude. Es würde ja wohl einmal ein Ende nehmen mit dem Natsoc. – aber wann, u. nicht vielleicht nach uns?
E. fühlte sich gestern sehr schlecht u. lag viel. So las ich viel vor (den lieben * Augustin), aber auch ziemlich viel für mich im * Colin Roß, der mir ein paar Ideen u. mancherlei Stoff zur LTI gibt. – Draußen ist bitterkalter Nebel, den mein Herz schlecht verträgt, u. ich wäre
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