Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
jene Welt des bürgerlichen Egoismus u. Überindividualismus, der sich als steril u. unfähig erwiesen hat, das Zusamenleben eines Volkes in sich u. der Völker untereinander wirkungsvoll u. fruchtbar zu organisieren. Wir haben versucht durch friedliches Vorleben das Neue u. Notwendige zu verbreiten. Wir müssen es jetzt im Verteidigungskrieg behaupten. Wir sind überfallen worden. Wir müssen unsern geschichtlichen Auftrag erfüllen .. Die neue bessere Ordnung besitzt ihre Keimzelle im Reich u. das deutsche Volk ist ihr Träger u. Bewahrer. Die Flamen unserer brennenden Städte stehen als Fanale an ihrem Weg zur Vollendung – –
    Heute schaffte * Waldmann – das ist sein Amt – für das Finanzamt je einen Reisekorb fort, worin die persönliche Kleidung * Cohns u. * Stühlers lag, den Hut, den Spazierstock einbegriffen. Nackter u. in seiner erbärmlichen Kleinlichkeit, dazu in seiner Brutalität gegen die Witwen ekelerregender Raub. – Wie wenig verbreitet ist Nachdenken. * Frau Cohn hat ihren Mann an einer Halskrankheit verloren. Sie sagt von dem Finanzbeamten: Er hat mir erzählt, sein Kind sei vor ein paar Monaten an Dipht[h]erie gestorben; ich betrachte das als eine Strafe Gottes!
     

 
    23. Dezember 44 Sonnabend Abend .
     
    Die Westoffensive der Deutschen schreitet fort u. bedrückt mich sehr; doch höre ich von mehreren Seiten ( * * Windes, * Stern, * Katz), sie sei nicht tragisch zu nehmen, sei Verzweiflungsakt, bedeute vielleicht nicht einmal Verzögerung, vielleicht sogar Beschleunigung des unvermeidlichen Endes. Immerhin ist mir schwer ums Herz. Zumal es sehr kalt geworden ist u. unsere Ernährung täglich schlechter wird u. * E. s Kräfte sehr nachlassen.
    Stern war bei uns u. lud uns für morgen Nachmittag ein, * Steinitz kam und brachte Einladung zum Dienstag. Das wird unsere Weihnachtsfeier: zweimal ein bißchen hausgebackener Kuchen. Wir können nichts schenken, weder uns noch anderen. Einen Baum gibt es in diesem Jahr nur durch die Partei für Kinderreiche. Die Sonderzuteilungen bestehen – natürlich für Arier nur – in 250 gr Fleisch u. zwei Eiern, den einzigen seit mehreren Monaten. Dieser Jämmerlichkeit soll nun durch den Sieg im Westen aufgeholfen werden. * Goebbels schreibt, wir würden bis zum letzten Regiment kämpfen und nicht wegen einiger Butterrationen aufhören. –
    In unsere Eßzeit hinein kam zu längerem Plaudern Katz. Wir sprachen über den Reiseautor * Richard Katz; ich erzählte, daß er zu meinem Erstaunen Arier sei. Unsinn! sagte Katz, der Mann sei ein Verwandter, in Neiße geboren, 1 sehe ihm sogar ähnlich, sei fraglos u. bestimmt Jude . Er übrigens schätze ihn nicht so sehr, u. seine * Frau, die speziell Reisebeschreibungen lese, schätze ihn gar nicht, er sei zu oberflächlich, zu jüdisch witzig. Ich nahm ihn (u. nahm auch den jüd. Feuilletonismus[)] in Schutz. – Ich lese jetzt für mich seinen Antipoden: * Colin Roß.
    Von * Stern u. von * Frau Stühler hörte ich die neuesten Zeitwitze. Der Unterschied zwischen Japan u. dem Volkssturm: Japan das Land des Lächelns; der Volkssturm das Lächeln des Landes. – Als * Heß ging, das war häßlich; ginge * Ley, das wäre leidlich; ginge * Himmler, es wäre himmlisch. – – Es ist wohl nicht ohne Wert solche Witze über LTI zu notieren: denn wer wagt, so etwas aufzuschreiben? Es kann ja den Kopf kosten.
    Den üblichen Alarm hatten wir heute in mildester Form. Nur 15 Minuten etwa, 14 10 –14 25 u. ohne Keller. [F]reilich kam er, als eben die Nachmittags-Kartoffeln fertig waren u. ging also doch auf die Nerven. Aber auch das ist man schon gewohnt.
     

 
    25. Dezember 44 Montag nach 13 h.
     
    Gestern blieben wir fliegerfrei, aber heute am ersten Feiertag saßen wir eben von 11 40 –12 20 u. wohl noch ein bisschen länger im bitterkalten Keller – die Heizsonnen waren teils entfernt worden, teils in Unordnung. (Wir hatten heut morgen um 8 Uhr 10°, gestern 11° Kälte) Der Alarm begann fast sogleich als Vollalarm, man hörte feindliche Flugzeuge, aber es blieb still, – Unter den Juden gedrückte Stimmung – es kann noch 2 Jahre dauern, sagte * Konrad als vox populi.
    Gestern Nachm. bei * * Sterns, eine sehr bescheidene Wohnung in der Krenkelstr., da hausen sie seit mehr als 30 Jahren – der Mann muß immer als Textilcomissionär eine sehr kleine aber biedere Rolle gespielt haben; die Romantik seines Lebens, von der er zehrt, ist eine Jugendanstellung in Südafrika. Seine stille u. sympathische Frau hält

Weitere Kostenlose Bücher