Klemperer, Viktor
gewollt um Arbeit bei der Schiffahrt zu finden, es sei nicht geglückt, er bekomme weder Quartier noch Essen. Er wolle zur Mutter nach Tetschen zurück. Wir waren in wirklichem Zwiespalt; der Junge machte wiegesagt ehrlichen Eindruck und tat uns leid. Andrerseits: was man ihm gab, gab man den erbarmungslosesten Totfeinden. Wir wählten einen Mittelweg, fuhren ihn bis zum Bahnhof Dresden, mochte dort der Bahnhofsdienst oder die Frauenschaft oder sonst eine Organisation der VOLKSGEMEINSCHAFT für ihn eingreifen. Unterwegs erzählte er in aller Unschuld, wie der verstorbene Vater und schon der Grossvater Nationalsozialisten gewesen seien, und wie in ihrer deutschen Fabrik kein Sozialdemokrat arbeite, und wie die Hellerjidin (das sei die Inhaberin des grossen Confektionshauses) ausgespuckt und gesagt habe: Dem * Hitler gehört eine Kugel in den Kopf!
Gestern im Ufa: Premiere; 2 das ist der wiederaufgenommene [e]rste deutsche Film der * Zarah Leander, die wir grossartig in der Habanera und als deportierte englische Actrice (credo: Zu neuen Ufern) gesehen haben. Hier hat sie eine kleinere Rolle als Revueschauspielerin, singt mit ihrer tiefen Stimme, spielt gut, kommt aber noch nicht voll zur Geltung. Das Stück als solches ist interessant und wird gut gespielt: Mord und Mordunte[r]suchung während einer Revuepremiere in Wien, die nicht unterbrochen werden darf. Aber das Stück hat den theatralischen Fehler des mangelnden Helden und zersplitterten Interesses, man kann sich nicht für eine bestimmte Person in erster Linie erwärmen (und keineswegs in erster Linie für Zarah L., die einer andern Schauspielerin durch Protektion den Posten fortgenommen hat (deren Bruder widerum der rächende Mörder des bösen Finanzgewaltigen ist). Aber gut ist das Ineinander von Theater und Polizeiaktion und gut das Detektivproblem und seine Lösung. – Auf der Hinfahrt in der Bienertstr. ein Moment ernstester Gefahr ohne jedes eigene Verschulden. Ich fuhr langsam, hupte und bremste dann auch rechtzeitig; von links her aus der Querstrasse kam m ein Wagen angerast, konnte nicht bremsen, wollte vor mir einbiegen und flog über den Bürgersteig mit allen vier Rädern haarscharf an der Mauer vorbei und zwischen Bäumen auf die Fahrbahn zurück. Dass ich halten konnte, dass er den Wagen nicht zerschmetterte, dass Fussgänger im Augenblick nicht auf dem Trottoir waren, war ein dreifaches Wunder.
Wir erwarten für heute Abend * Annemarie. Gestern das Kino und ein Sack Cement, heute eine Zunge zum Abend – das ist die ganze Geburtstagsfeier. Im August wird es um unsere Kasse etwas besser stehen, und dann wollen wir nachträglich feiern.
* Grete, der * E. eine Jacke gehäkelt und einen alten Lodenmantel geschenkt hat und der ich von unserer bösen Reparatur schrieb, bot mir heute 200 [M]. an; ich lehnte ab, ich würde im schlimmsten Fall mich an sie wenden, im Augenblick würgten wir, aber noch würgten wir uns durch. Vielleicht war dieses Schamgefühl ein töricht unzeitgemässer Luxus.
27. Juli 38, Mittwoch.
Tiefstandtage. Ich finde mich lächerlich, dass ich immer noch Hoffnung auf Umschwung hege. Sie sitzen so fest im Sattel, in Deutschland ist man zufrieden, im Ausland duckt man sich. Jetzt greift England in der Tschechei zugunsten der Sudetendeutschen ein. 3 Der Stürmer trägt heute die Überschrift: Synagogen sind Räuberhöhlen. Darunter: Die Schande von Nürnberg und das Bild der dortigen Synagoge. 1938 in Mitteleuropa. – [S]eit einigen Tagen tut sich nun auch in Italien Rassenkunde und Antisemitismus 4 officiell auf.
Geldnot. Die grosse Wagenreparatur kostet 279 M. Dazu die Kühlerreinigung 14 M. Ich bin durch Raten auf Monate belastet, an ausgibiges Fahren ist nicht zu denken, kleine Notwendigkeiten sind unerschwinglich. Der ständige Wunsch, einmal ein bisschen weiter und länger fortzukönnen (ich will mich gar nicht zur üblichen Vierwochenreise alten Stils versteigen) wird immer unerfüllbarer.
Die kleinen Fahrten der letzten Zeit sehr behindert, mehr noch durch den kochenden Kühler als die zu schonenden Kolben. Am Sonntag, 17. Nachm. Pirna–Rathewalde. Ein hübscher Blick auf die Bastei (wie ein schiefsitzendes Gebiss), ein hübscher Blick auf Stolpen. – Am 24., letzten Sonntag, war Bautzen geplant: hinter dem Weißen Hirsch, ein paar hundert M. vor u. tief unter der nächsten Tankstelle versagt der Wagen. Nirgends ein Reparateur, ein freier Mann bei einer Tankstelle. Hin u. Her. Wasser auf die Benzinpumpe.
Weitere Kostenlose Bücher