Klemperer, Viktor

Kapitels Freieres Theater (nunmehr des Anfangs vom vierten Buch, nachdem ich endlich die Möglichkeit der Zerlegung gefunden habe: B. III Die Wirkung * Rousseaus: Zuwachs und Bindungen; B. IV Die Wirkung R.[s]: Die centrale Literatur – ich konnte B. III doch unmöglich Randliteratur nennen, wo es * André Chénier 1 enthält und die Studien über Englisches[,] Deutsches, Antikes, und ich hatte doch durchaus das Gefühl, erst jetzt ins Centrum zu gelangen, und es widerstrebte mir, die ganze Stoffmasse als ein einziges Buch zu geben) – dies Stückchen also ist fertig, und jetzt sehe ich dass ich wiederholt in krassen Widerspruch zum ersten Band geraten bin. Ich arbeite eben schon zuviele Jahre an dem Ganzen, habe im Arbeiten zugelernt und habe vieles vergessen, was ich in den ersten Jahren leichtfertiger und nachplappernder schrieb. Wenn ich wirklich einmal fertig werde, mit dem Ganzen meine ich, wird es wochenlangen, monatelangen Nachbesserns und Harmonisierens bedürfen. In Bd. I erkenne ich noch in grossen Worten an, dass die Tragödie mit * Voltaire sterbe; in Bd. II beweise ich in ernstlichster Studie das Gegenteil!!
    Mir fiel in der letzten Zeit mehrfach auf, dass Worte und Witze genau so ihren Ort in der sozialen Schicht verändern wie Moden. Vor sehr langer Zeit hörte ich von besseren Leuten schon: In Süddeutschland passt keine Gasmaske, die Gesichter sind zu lang. Und: Ich wünsche einen Anzugstoff, in den die Motten kommen. –? – Na ja, in die üblichen Stoffe kommen jetzt Holzwürmer. In diesen Wochen wurde uns der Maskenwitz mit Anwendung auf Österreich von * Maria Kube erzählt, der Mottenwitz vo[ n ]m Autowolf. * Wolf, das Gegenteil eines Nazi, sagte auch, als ich an einem heissen Tag über den engen Kragen klagte: In der Systemzeit hat trug man offene Umschlagkragen.[] SYSTEMZEIT = künstliche Interessen- und Parteiencombination verlogener intellektualistischer Construction, währen[d] WIR die natürliche Volkseinheit bedeuten. Im Munde der Masse teils unverstandenes Schimpfwort, teils gedankenlose, entgeistigte Bezeichnung. (Cf. einerseits liberalistisch im Munde des * Sekundaners Kleinstück, andrerseits []Kravatte.)
    Wieder ungemein verstärkter Antisemitismus. Über die jüd. Vermögensangabe schrieb [i]ch an * * Bl.s. Dazu Verbot einzelner Gewerbe, gelbe Kurkarten in Bädern. Auch tobt sich die Weltanschauung scientifice[r] 2 aus. In München tagt die akademische Gesellschaft zur Erforschung des Judentums; ein Professor (deutscher Universitätsprofessor) stellt die traits éternels 3 des Judentums fest: Grausamkeit, Hass, Leidenschaft, Anpassungsfähigkeit – wahrhaftig sic; ein anderer sieht den uralten asiatischen Hass aus * Hardens 4 und * Rathenaus 5 Augen züngeln. Irgendwo anders tagt die Gesellschaft der Psychologen, und * Jaentsch 6 verdonnert die materialistische Psychologie der Juden, insbesondere * Freuds, und stellt ihr die Geistigkeit der neuen Lehre entgegen. Und dass bei der Eröffnung deutscher Kunstausstellung in München Hitler etc. ihre bekannten Sprüche hersagen, versteht sich.
    Den Wagen mit neuen Kolben lieferte * Wolf ab, doch erst in unmöglichstem Zustand. Lange wurde noch hier an ihm herumgebessert, auf Probefahrt knallte, ratschte u. versagte er immer wieder; seit ein paar Tagen läuft er nun reconvalescentenhaft langsam und stockend, aber immerhin: er läuft. Nach etwa 600 km. soll er weich und wieder auf der Höhe sein. Wo aber das Geld für 600 km hernehmen? Vorläufig haben wir es mit kleinem Betrieb auf etwa 100 km. gebracht: etwa, denn ein neuer (von * W. auf dem Autoschlachthof besorgter) Tach[o]meter ist noch nicht eingebaut. Am Freitag Abend zum * Moreaudenkmal gefahren in den darunter gelegenen neuen Parkgängen. Weiter Blick auf Stadt und Elbhöhen. eine Menge Menschen standen und sassen hier im Gras und warteten auf das Feuerwerk der Vogelwiese. Es kam und war ziemlich jämmerlich. – Am Sonntag langsame pausenreiche Fahrt am rechten Elbufer nach Meißen. Dort zum erstenmal die neue Elbstraße außerhalb der Stadt unter der Burg. Hier eine merkwürdige (Kloster?)-Ruine, in der sich jetzt eine Gärtnerei befindet.
    Auf dem Fluss viel Leben: Wettrudern, ein Motorboot der Polizei, ein jagendes Rennboot, Dampfer, Elbkähne. Auf dem Rückweg kurz hinter Meissen bat mich ein taumelnd müder gutartig aussehender junger Mensch ihn ein Stück nach Dresden mitzunehmen. Er sei aus Tetschen, Sudetendeutscher, zeigte Ausweis der SDP, 1 er habe nach Hamburg