Klemperer, Viktor
Unterwegs Kaffee und Abendbrod, ziemlich kostspieliges, anstrengendes, ein klein wenig getrübtes Vergnügen. Um 1 Uhr hier fort, etwa gegen 10 zurück, etwa 230 km. – Am Pfingstmontag wunderhübsche Spazierfahrt nach Grüngräbchen. Lange dort. Märchen- und theaterhaft. Eine Unmenge Autos und Motorräder. Alles, ganz einfache Leute, kaufte. Arbeiter nehmen ihr Stöckchen im Rucksack mit, bessere Leute beladen ihr Auto. Überall begegnet man Fahrzeugen mit Rhododendren. Von früh um 7 bis Abends 9 verkaufen wir immerfort, erzählte der Gärtner. Das Stück von 1,50 bis 400 Mark! Wir selber nahmen für 5 M. drei Stück mit. – Am Sonntag 11. VI. eine wohlgelungene Fahrt nach Rochlitz. Nach dem Kaffee hier weg; auf dem Rückweg (ein Stück Autobahn) in Wilsdruf[f] zu Abend gegessen. In Rochlitz grosses Jahrmarktstreiben; wir kauften ein bisschen Strumpfzeug. Wir gingen zum Fluss hinab. In R. waren wir mit dem Wagen schon im Mai 36, damals war das ein grosses Unternehmen für uns.
Zwei interessante Kinobesuche. Am 2. VI. Schauburg: Geheimnis um Betty Bonn. 2 * Ponto 3 als unglücklicher Schiffskapitän – unglückliche Liebesaffaire, in Betrug bei Schiffsbergung hereingezerrt, Selbstmord – ausgezeichnet, ganz menschlich, kein falscher Ton, grossartig in müder Bewegung. 8. VI. LI-MU: Es leuchten die Sterne. 4 Filmrevue, zusammengestückelt und doch sehr hübsch mit durchgehender Handlung und unaufdringlicher Didaxis, nicht blosser Glorifikation des Films. (Immer wieder beschäftigen mich die Dimensionen des Ruhms: alle Welt kennt heute den Filmstar, der morgen vergessen ist; 100 Leute kennen heute einen Gelehrten, aber 100 kennen ihn auch noch in 100 Jahren.)
Immer noch mit immer gleichem Interesse (seit Ende April) lese ich * Krieg und Frieden vor. Eigentümliche Geschichtsphilosophie. Und doch wohl zum grössten Teil berechtigt.
Ich notiere alles so kurz, weil ich wie verfolgt bin von meinem Dix-huitieme und es doch immer langsamer und gehemmter ausarbeite. Manchmal scheint mir alles dagegen verschworen, eigentlich immer bin ich von der Nutz- und Endlosigkeit der Sache überzeugt, und doch kann ich nicht von ihr ablasssen.
Seit * Frau Lehmanns Ausfall doppelter Zeitaufwand für die Küche etc. Aber auch wenn ich einmal den ganzen Tag für mich habe, streiken die Augen. Und täglich, wenn ich mich durch den Park hier heraufschleppe, denke ich: Schluss mit 59, wie bei * Berth. u. * Wally.
Nachricht von * Frau Schaps nach beendeter Weltreise aus London, wo ihre * * * * Kinder sich ansiedeln.
Nachricht von * Marta aus Soprabolzano (Dort brutalisiert man keine Sudetendeutschen, man hat bloß die Tiroler an die abessinische Front geschickt.
Nachricht von * * Blumenfelds aus Lima. – Langer jäserlicher Brief von * Lissy Meyerhof ( * B. in New-York stellungslos.)
Alles das will ich vor Beginn des neuen Capitels beantworten.
29. Juni 38, Mittwoch.
34 Jahre – wir könnten einen zwölfjährigen Enkel haben; wir sagen uns beide: Gott sei dank, dass nicht! Und ich denke an ein Wort in irgend einem modernen Franzosen: Les enfants, c'e[s]t pour les femmes malheureuses. 1 Und setze hinzu: et pour les hommes malheureux. 2
Wir sassen ganz still, da der Wagen nun doch in Generalreparatur musste (was mindestens dreimonatiges Abstottern und entsprechende Enge bedeutet. Aber er ist unser letztes Stückchen Freiheit. Den Vormittag verbrachten wir mit der Ausfüllung der Formulare: Vermögensaufstellung der Juden. 3 Es war nichts bei uns anzugeben. Das Haus mit 22 000 M., wovon 12 000 Hypothek, die Iduna mit 15 000 M., worauf 9 000 Schulden liegen (und deren weitere Zahlung rätselhaft). Was will man mit dieser Aufstellung? Wir sind es so gewohnt, in diesem Zustand der Entrechtung und des stumpfen Wartens auf weitere Schandtaten zu leben, es regt uns schon kaum noch auf.
30. Juni, Donnerstag.
Der letzte grössere Ausflug vor dem gänzlichen Versagen des Bocks war [a]m 19. 6. Augustusburg in der Nähe von Chemnitz, hin über Freiberg, Flöha, zurück, Frankenberg, Autobahn, etwa 140 km., um 3 von Haus fort, um 9 zum Essen zurück. A. wohin uns ein Bild im Hauptbahnhof seit Jahren lockte, ist geradezu imposant. Hoch über weiter Landschaft eine mächtige Schlossburg, von weither sichtbar, teils an Frauenstein, teils an Nossen erinnernd. Zu Füssen alte Kleinstadt, immer noch hoch genug über der Weite. Natürlich wieder Jahrmarktstreiben. Es ist auffallend wie immer und überall – wir sind
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