Klippen
Mal, diese Worte aus seinem Mund, Worte wie mein Fratz mein Füchslein mein Frettchen. Ich fahre ihm auf meinem Fahrrad hinterher, und wir überqueren einen Seitenarm auf einer Brücke, wir halten an, um uns die Schleppkähne, die Schuten, die Häuser auf der anderen Seite und die Flugzeuge anzusehen, die über uns hinwegfliegen, gerade starten oder gleich darauf die Zementpiste von Orly berühren. Er dreht sich zu mir um, sagt: »Wir machen ein Wettrennen« und lässt mich gewinnen. Später spielen wir Fußball, er packt mich an den Fußknöcheln, und wir rollen durchs Gras, danach trinken wir atemlos Seite an Seite, und er nennt mir die Namen der Bäume und Vögel. Wir stehen im Garten vor dem Grill, Maman schließt auf der Terrasse die Augen, und die Sonne beißt sie sanft in die Haut. Ich mache es ihr nach, und im Gegenlicht sind unsere Lider orange. Ich öffne sie einen Spalt, und alles ist verschwommen. Ich strecke die Finger aus, schnappe mir ein Birkenblatt und halte es in die Sonne, und Maman und ich verbringen Stunden mit der Betrachtung der durchsichtigen Welt. Mein Vater richtet den Gartenschlauch auf uns und spritzt uns nass, Maman kreischt und lacht, und Antoine kommt mit ein paar vollen Flaschen in der Hand, er jagt meinen Vater, der sich kaputtlacht, und ich weiß nicht, wie oft wir ums Haus rennen, und auf diesen Bildern erkenne ich nichts und niemanden, weder meinen Vater noch meine Mutter, auch nicht meinen Bruder und schon gar nicht mich, und ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob alles nur ein Traum war, nicht wahrer als jeder andere und genauso trügerisch und unwirklich, als hätte ich in jener Nacht geträumt, dass ich eine bekannte Schauspielerin oder Schulfreundin vögele, oder von Monstern, verschlossenen Zimmern, Labyrinthen, Spaziergängen auf der Straße im Pyjama oder barfuß oder, wie es manchmal vorkam, dass ich als Erwachsener unter lauter Kindern die Schulbank drücke.
Danach verschwand mein Vater, im Gegensatz zu meiner Mutter, aus meinen Träumen, wie er aus meinem Leben verschwunden war. Danach kam es mir manchmal so vor, als wäre ein wenig Licht ins Dunkel gekommen und hätte ein Stück meiner vergessenen Kindheit beleuchtet, als gäbe es nun ein Fragezeichen weniger, als könnte ich nun auf die Frage, wie mein Vater vor dem Tod meiner Mutter war, eine beruhigende Antwort geben, die darauf schließen ließ, dass es ganz bestimmt glückliche Zeiten gegeben hatte und dass das schwarze Loch ein Quell der Zärtlichkeit, ein Fundament der Liebe war. Doch in anderen Augenblicken, ja, meistens, kam es mir so vor, als wäre dieser Traum nur ein Wunschtraum gewesen, nichts weiter, ein Hirngespinst, das ohnehin nichts änderte. Was man vergisst, existiert nicht. Was aus unseren Gehirnen gelöscht wird, wird auch aus unseren Körpern, unserem Blut, unserem Leben gelöscht, hinterlässt keine Spuren, keinen Abdruck, nur vollkommene Leere, schwindelerregend und kalt.
Ich bin einunddreißig, am Leben zu bleiben war für mich lange eine Vollzeitbeschäftigung, ein Programm, eine Perspektive. Eine Art Gleichgewicht wahren. Nicht einknicken oder in Tränen ausbrechen. Nicht versacken und nicht von jenen mitreißen lassen, die jetzt weit weg sind, mit denen ich verbunden war und deren Gewicht auf mir lastet.
Ich bin einunddreißig, aber das hat nicht viel zu sagen. Ich weiß um das Gewicht der Toten. Und ich weiß um das Unglück. Ich weiß um Verlust und Verwüstung, um den Geschmack des Blutes, um die verlorenen Jahre und um die, die durch die Finger rinnen. Ich kenne die Tiefe des Sands, habe seinen Widerstand und die Unberechenbarkeit der beweglichen Materie gespürt. Ich weiß, dass man auf nichts bauen kann, dass sich alles auflöst, zerreißt und bricht, dass alles verwelkt und alles stirbt. Das Leben macht die Lebenden kaputt, und niemand klebt die Stücke je zusammen, niemand sammelt sie überhaupt auf.
Unsere Leben sind gleich. Unsere Leben sind ähnlich und unstet. Unser Gedächtnis ist ausgewaschen, von Säure zerfressen, löchrig wie schlechte Baumwolle. Unsere Zukunft verschüttet, unsere Geschichte unleserlich, ohne Struktur und roten Faden, alle Lichter sind aus. Unsere Leben sind schlecht zusammengefügte Stücke, verstreute Einzelteile, die nie zueinanderpassen. Unsere Leben sind modern und vergessen, winzig klein und verschmäht. Millionen erhellter Fenster in den Fassaden, Scheinwerfer in der Nacht, Körper in der Stadt.
Unsere Leben sind gleich.
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