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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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nicht, warum, aber ich kam nicht auf die Idee, ich konnte mir meinen Vater nicht tot vorstellen. Chloé war gerade geboren worden. Claire bestand darauf, dass ich meinen Vater darüber informierte, er sollte zumindest wissen, dass er nun Großvater war. Sie fand, das sei das Mindeste, die Gelegenheit, wieder Kontakt aufzunehmen. Hunderte Male sah ich das Telefon an, konnte mich aber nicht überwinden, es in die Hand zu nehmen. Ich atmete tief ein, um mich zu beruhigen und die erforderliche Energie und Unbeschwertheit zu finden, bevor ich ihn anrief und wieder seine Stimme hörte, obwohl es mir so vorkam, als würde ich für immer vor ihr fliehen, obwohl es mir manchmal so vorkam, als wäre es der verborgene Sinn meines Lebens, vor meinem Vater zu fliehen und für immer nach meiner geflohenen Mutter zu suchen.
    Ich weiß nicht mehr, was den Ausschlag gab und warum ich an diesem Tag – vielleicht war es auch schon Abend, und bestimmt hatte ich getrunken – die Kraft, den Mut fand, es zu tun. Ich griff nach dem Hörer und wählte die Nummer. Ich stand im Flur, aus dem Wohnzimmer hörte ich Radiomusik und das leise Quieken meiner Tochter, ein ausgehungertes Tierchen, das mit geschlossenen Augen und aufgerissenem Mund Claires Brust suchte. Von draußen drangen Vogelrufe, das Gurgeln in den Dachrinnen und das Knarren sich biegender Bäume zu mir. Es klingelte einmal, und ich war bereit aufzulegen, sobald seine Stimme sich meldete. Aber dieses Mal und auch alle weiteren Male klingelte das Telefon durch, und keine Ansage, kein Anrufbeantworter, keine Stimme unterbrach das regelmäßige synthetische Tuten. Claire überzeugte mich schließlich, dass vielleicht etwas passiert war, dass mein Vater womöglich im Krankenhaus lag oder umgezogen war, und ich stellte ihn mir in einer dieser Einrichtungen für ältere Menschen vor, wo ausgemergelte, verstörte Greise im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher dösen, sich im Schlaf vollscheißen und Besuch von Neffen erhalten, deren Namen sie sich nicht merken können, wo sie die ständige Gegenwart von Krankenschwestern und Pflegern ertragen müssen, die mit ihnen in einem Ton sprechen, den man normalerweise Kleinkindern oder Tieren vorbehält. Orte, die nach Lauge riechen und wo der Körper streikt, zusammenklappt und immerzu leidet, wo das Leben verkümmert, das Fleisch verfault und nach Tod und Moder riecht wie die Haut nach monatelanger Ruhigstellung unter einem Gips. Orte, wo der Geist zwar wach ist, der Mund aber ebenso wenig gehorcht wie die Beine oder der Schließmuskel.
    Ich stellte mir vor, wie mein Vater in dieser Welt lebender Toter eingeschlossen war, ich stellte mir vor, wie seine Wut andere Formen annahm, sich an anderen Wänden, anderen Gesichtern, anderen Gesten stieß, ich stellte ihn mir als einen dieser unerträglichen und boshaften, cholerischen und abscheulichen Alten vor, über den sich die Krankenschwestern beklagen. So stellte ich ihn mir vor, und trotzdem wählte ich mehrmals am Tag seine Nummer. Ein paar Mal versuchte ich mein Glück in den umliegenden Krankenhäusern, aber nein, sein Name stand in keinem Aufnahmeverzeichnis, die Sekretärinnen fragten mich am Telefon, ob ich sein Sohn sei, und als ich bejahte, fragten sie sich laut: Wie konnte es sein, dass man nicht weiß, wo sich der eigene Vater befindet, ob er krank ist und was er hat? Ich hörte mir ihr Lamento nicht an, sondern legte auf und signalisierte Claire, nein, dort hatte man ihn auch nicht gesehen. Sie schien sich mehr Sorgen zu machen als ich. Trotz allem, was ich ihr über meine Beziehung zu ihm gesagt hatte, beendete sie das Gespräch immer auf dieselbe Weise, nämlich mit dem unumstößlichen Satz: »Aber er ist nun mal dein Vater.« Ich habe nie begriffen, was es damit auf sich hat, was Familienbande so anders macht als andere, warum man sie nicht brechen kann, auch wenn alles dafür spricht, auch wenn man sie irgendwann als zu lose oder zu bedrückend empfindet. Schließlich gab ich nach. Es war ein Tag im November, wir nahmen den Zug nach Brest, und als wir in Paris ankamen, war alles feucht und neblig, in das scheußliche Grau der Städte gehüllt und mit einer klebrigen Trostlosigkeit durchtränkt. Wir stiegen in die S-Bahn. Chloé schlief in eine dicke Decke gewickelt, ab und zu stieß sie ein leises Grunzen aus, zuckte oder bewegte ihre Finger, die sich in meine Nase oder Ohren krallten. Wir fuhren zwischen Häuserzeilen und Fensterfronten hindurch, an Lagerhallen, Industrie-und

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