Kloster Northanger
klarer; Fülle und Farbe machten ihre Züge weicher; ihre Augen wurden lebhafter und ihre Figur betonter. Ihre Vorliebe für Schmutz wich der Freude an Samt und Seide, und mit dem Verstand kam auch die Sauberkeit. Mit Vergnügen hörte sie nun manchmal ihre Eltern sagen, wie sehr sie sich zu ihrem Vorteil verändert habe. »Catherine wird ein richtig gutaussehendes Mädchen. Heute sieht sie beinahe hübsch aus«, fing sie jetzt von Zeit zu Zeit auf, und solche Sätze waren Musik in ihren Ohren.
Beinahe
hübsch zu sein, bereitet einem Mädchen, das die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens unscheinbar war, größeres Entzücken als jemandem, der schon in der Wiege als Schönheit galt.
Mrs. Morland war eine herzensgute Frau und hatte die besten Absichten mit ihren Kindern, aber sie war so völlig mit ihrem Wochenbett und der Beschäftigung mit den Kleinen ausgelastet, dass ihre älteren Töchter notgedrungen allein zurechtkommen mussten, und daher war es auch nicht verwunderlich, dass Catherine, die von Natur so gar nichts von einer Heldin hatte, im Alter von vierzehn Jahren Cricket, Baseball, Reiten und Herumstromern den Büchern vorzog – oder wenigstens
den
Büchern, aus denen man etwas lernen konnte, denn vorausgesetzt, dass sich ihnen keinerlei nützliches Wissen entnehmen ließ, vorausgesetzt, dass sie nichts Theoretisches, sondern nur Handlung enthielten, hatte sie gegen Bücher gar nichts einzuwenden. Aber zwischen fünfzehn und siebzehn bereitete sie sich auf ihre Rolle als Romanheldin vor; sie las all die Werke, die Heldinnen gelesen haben müssen, um sich die Zitate einprägen zu können, die in den Wechselfällen ihres ereignisreichen Lebens so brauchbar und tröstlich sind.
Von Pope lernte sie, die zu verurteilen, die
»Scherz treiben mit dem Schmerz der andern«;
von Gray, dass
»Manch Blume muss verblühn in Einsamkeit
Und ihren Duft im Wüstensand verströmen«;
von Thompson, dass
»Es ist ein köstliches Bemühen,
Des Geistes jungen Trieb zu ziehen«;
und Shakespeare versorgte sie mit einem großen Vorrat an Wissen, unter anderem, dass
»Dinge, leicht wie Luft,
Sind für die Eifersucht Beweise, stark
Wie Bibelsprüche«;
dass
»Der arme Käfer, den dein Fuß zertritt,
Fühlt körperlich ein Leiden, ganz so groß,
Als wenn ein Riese stirbt«;
und dass eine verliebte junge Frau immer aussieht
»Wie die Geduld auf einer Gruft
Dem Grame lächelnd«. 3
So weit hatte sie also zufriedenstellende Fortschritte gemacht, und in manch anderer Hinsicht war sie auf dem besten Wege, denn obwohl sie keine Sonette schreiben konnte, zwang sie sich dazu, welche zu lesen, und obwohl anscheinend keine Aussicht für sie bestand, eine ganze Gesellschaft mit der Darbietung eines eigenen Préludes auf dem Klavier in Verzückung zu versetzen, konnte sie dem Spiel anderer zuhören, ohne merklich zu ermüden. Nur mit dem Zeichenstift wusste sie ganz und gar nicht umzugehen – sie hatte zum Zeichnen einfach kein Talent; es langte nicht einmal dazu, das Profil ihres Verehrers so zu skizzieren, dass ihre künstlerische Handschrift darin zu erkennen war. Hier blieb sie kläglich hinter der wahren Größe einer Romanheldin zurück. Aber vorläufig ahnte sie nichts von ihrer Unzulänglichkeit, denn sie hatte gar keinen Verehrer, den sie hätte porträtieren können. Sie hatte das Alter von siebzehn erreicht, ohne einen einzigen liebenswürdigen jungen Mann gesehen zu haben, der ihre Gefühle geweckt hätte, ohne eine einzige wahre Leidenschaft hervorgerufen zu haben, ja, ohne mehr als höchst mäßige und flüchtige Bewunderung erregt zu haben. Das war wirklich sonderbar! Aber sonderbare Dinge hören auf, es zu sein, wenn man ihnen auf den Grund geht. Es gab keinen einzigen Lord in der Nachbarschaft, ja, nicht einmal einen Baron. In ihrem gesamten Bekanntenkreis hatte nicht eine einzige Familie einen Jungen großzuziehen, den sie zufällig vor ihrer Tür gefunden hatte – nicht einen einzigen jungen Mann, dessen Herkunft unbekannt war. Ihr Vater hatte kein Mündel und der reichste Mann der Gegend keine Kinder.
Aber wenn eine junge Dame dazu bestimmt ist, Romanheldin zu werden, können auch die widrigsten Umstände in noch so vielen Familien der Umgebung sie nicht davon abhalten. Etwas muss und wird geschehen, damit ihr der Held über den Weg läuft.
Mr. Allen, dem die Ländereien um Fullerton – das Dorf in Wiltshire, wo die Morlands wohnten – zum größeren Teil gehörten, wurde wegen seiner Gichtanfälle ein
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