Klotz Und Der Unbegabte Moerder
immer klarere Konturen an. Je höher er sah, desto unwohler wurde ihm, und das lag an dieser Verspieltheit der Formen, die nach oben hin immer mehr zunahm. Das passte nicht zu dem, wonach er sich sehnte, zu dieser Schlichtheit, die sein Innerstes ausmachte. Späte Gotik, das ist doch irgendwie scheiße.
Sein Blick verwischte. Die Verzierungen traten in den Hintergrund, dafür nahm er das Mauerwerk in seiner Zerstückelung stärker wahr. Ein Fleckenteppich, dachte er, ein Puzzlespiel, zusammengeschustert, notdürftig geflickt wegen der Bombensplitter und der natürlichen Erosion. Dieses Bauwerk, es hatte gebröckelt wie er selbst, aber es stand noch. Zeigte stolz seine Narben. Schämte sich seiner Unvollkommenheit nicht. Und er wünschte sich, wie diese Kirche zu sein, vielleicht ohne die Schnörkel und Windungen, aber dieses Ruinöse, dieses schamlos Zerbröckelnde, das hatte es ihm angetan, irgendwie.
Er sah an sich hinunter. An seinem blau-schwarz karierten Hemd, das nach Kneipe und Bier roch. Sah seinen hervortretenden Bauch, der den Rest seines Körpers so weit verdeckte, dass er nur noch die Spitzen seiner verschrammten Lederschuhe sehen konnte. Erst jetzt bemerkte er wieder die Plastiktüte, die er die ganze Zeit mit sich herumgezogen hatte, seit heute Nachmittag. Heute? Er sah auf seine Armbanduhr. Wahnsinn, wie die Zeit verging! Heute, das war offensichtlich schon drei Stunden her. Seit gestern Nachmittag also war er mit dieser Tüte hier unterwegs. Er betrachtete sie wie einen Fremdkörper, ein Stück staubiger Archäologie aus einer anderen Epoche. Und im Grunde war sie das ja auch. Plötzlich fiel ihm ein Song ein, den er sehr mochte. What a difference a day makes / Twenty-four little hours …
Eine andere Epoche: Um eins war er in den Karstadt gegangen, um mit Melanie zu sprechen, wegen des gemeinsamen Umzugs. Wieder sah er ihre Augen vor sich, die immer noch strahlten, so warm und weich, so wie am ersten Tag, als sie sich kennengelernt hatten. Der erste Tag. Wie lange war das jetzt her? Klotz überlegte, während er in den nächtlichen Sommerhimmel blickte. Gut zweieinhalb Jahre. So lange kannten sie sich schon. Oder so kurz, je nachdem.
Sie hatten also über den Umzug gesprochen und waren sich in beinahe allen Punkten einig gewesen. Nur dieses »Blinde Mädchen« von Millais war Melanie zuwider, das wollte sie nicht in der neuen Wohnung haben. Und Klotz wusste genau, warum. Es lag weder am Motiv noch an den Farben oder am Stil des Kunstdrucks. Das »Blinde Mädchen« war ein Relikt seiner gescheiterten Ehe, einzig und allein da lag der Hund begraben. Worauf war sie da eigentlich eifersüchtig, fragte sich Klotz, und der Ansatz eines müden Lächelns zeichnete sich auf seinen Lippen ab.
Er sah noch einmal auf die Tüte und schlug den rechten Weg ein, zwischen Commerzbank und Kirche.
Nachdem Melanie in ihre Abteilung zurückgekehrt war, hatte er für Frederik ein Handy gekauft. Er hatte der Verkäuferin den Zettel hingelegt, auf dem sein Sohn die Angaben zu dem Modell notiert hatte, und am Ende nicht schlecht gestaunt, als er zweihundert Euro losgeworden war. Eigentlich war das viel zu viel für ein Geburtstagsgeschenk, das war ihm klar. Andererseits hatte er schon ein Leben lang seinem Sohn gegenüber ein schlechtes Gewissen: Wann sah man sich schon mal, bei dem permanenten Schichtdienst, der Bereitschaft am Wochenende, den vielen Aktionen außer der Reihe? Sollte er vielleicht langsam ruhiger treten, vielleicht endlich doch auf Teilzeit gehen? Er erinnerte sich, dass Melanie sich nicht selten darüber beschwerte, dass er so häufig unterwegs war. Nicht wenige seiner Kollegen hatten aus eben diesem Grund ihre Beziehung dahinscheiden sehen. Klotz dachte wieder an seine Ehe.
Kurz nach drei war er dann bei Diana aufgetaucht. Sie hatte einen verschüchterten Blick durch den Türspalt geworfen, hatte »Moment« gesagt und war sofort wieder verschwunden. Im Nachhinein, dachte er, hätte er eigentlich schon stutzig werden müssen, als sie die Sicherheitskette nicht löste. Das tat dann wenig später ein massiger Kerl, der annähernd zwei Meter groß war, ein schneeweißes Hemd trug und eine rosa Seidenkrawatte umgebunden hatte. Er hatte sich als Dr. Höderlein vorgestellt, Fachanwalt für Familienrecht und neuer Lebensgefährte seiner Ex. Klotz waren die tadellos geputzten Schuhe aufgefallen, die unter einer dunklen Anzughose gefährlich glänzten.
Dr. Höderlein hatte Klotz darum gebeten, dass er
Weitere Kostenlose Bücher