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Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden

Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden

Titel: Ulysses Moore – Das Buch der Traumreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierdomenico Baccalario
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Kapitel 1
Eine Katze aus Venedig
    »Mioli?«, rief Anita leise. »Mioli?«
    Sie stand auf Zehenspitzen im Gras und lauschte. Doch von dem Kater war weder was zu sehen noch zu hören.
    Anita zog das Band ab, das ihr dunkles schulterlanges Haar zusammengehalten hatte und biss sich auf die Unterlippe – unentschlossen, ob sie sich ärgern oder sich Sorgen machen sollte. Es war schon spät. Der Junihimmel hatte sich bereits tieforange verfärbt und von der Lagune wehte ein frischer Wind herüber. Er bewegte die Zweige der Glyzinien und trug ihren süßen Blütenduft mit sich.
    »Mioli?«, rief Anita erneut, obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn machte, draußen weiterzusuchen. Vermutlich war der Kater einen der gewundenen Glyzinienstämme hinaufgeklettert, am Rand der Pergola entlangbalanciert und über die Gartenmauer gesprungen. Und sie hatte es nicht gemerkt, obwohl sie den ganzen Nachmittag am Tisch auf dem Rasen gesessen und ihre Hausaufgaben erledigt hatte.
    »Verflixt!«
    Der Wind blätterte durch die Seiten ihres Geschichtsbuchs.
    »Verflixt und zugenäht!«, schimpfte sie ein zweites Mal. Wann hatte sie Mioli zuletzt gesehen?
    Sie schnappte sich Buch, Hefte und Füller, stopfte alles in ihren Schulrucksack und lief den langen, schmalen Hofgang entlang. Über ihr ragte das alte, dreistöckige Haus mit seinem abbröckelnden Verputz und den schmalen, steinernen Spitzbögen auf. Anita ging hinein und lehnte sich gegen das Geländer der engen Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte.
    Wie aus weiter Ferne vernahm sie die vertrauten Klänge klassischer Musik, die ihre Mutter wie immer bei der Arbeit hörte. Die Wände im Treppenhaus waren von oben bis unten mit Fresken bemalt: dunkle Gestalten und Gesichter von Menschen und Tieren, die in den Schatten des düsteren Aufgangs verschwammen. Die Decke in der zweiten Etage leuchtete in einem intensiven Goldton und wurde von einem quer verlaufenden dunklen Riss durchbrochen.
    Anita erinnerte dieser an die Wurzel eines Baumes.
    Wenn sie mit den Augen dem gezackten Riss folgte, der in einem dunklen Fleck endete, glaubte sie, darin kleine silberne Blättchen zu erkennen.
    Am Fuß der Treppe kniete sie sich hin und rief wieder: »Mioli?«
    Sie hörte aber nur die Geigenmusik aus dem Radio ihrer Mutter und Stimmen, die von draußen kommen mussten, aus der Gasse oder vom Kanal her.
    Anita rannte die Stufen hoch, ohne weiter auf die Gesichter an der Wand zu achten.
    Im zweiten Stock angelangt, kletterte sie über mehrere auf dem Boden liegende Bretter. In dieser Etage waren in allen Räumen Gerüste aufgebaut worden, die bis zur Decke hinaufreichten.
    Ganz oben auf einem dieser Gerüste stand Anitas Mutter. Sie trug einen schmutzigen Arbeitskittel, eine Plastikhaube und eine große gelbe Schutzbrille, die sie wie ein seltsames Insekt aussehen ließ.
    Mrs Bloom war Restauratorin. Vor einigen Wochen war sie von London nach Venedig gerufen worden, um in der Ca’ degli Sgorbi die vom Boden bis unter die Decke bemalten Räume zu restaurieren.
    Mit Unmengen von Pinseln, Messern, Wattebäuschen und destilliertem Wasser ausgerüstet, nahm sie sich geduldig eine Wand nach der anderen vor, um die verblassten Fresken wieder zum Vorschein zu bringen. Es würde mindestens ein Jahr dauern, bis alles wieder in alter Pracht erstrahlte.
    So lange würde sie in Venedig bleiben − und Anita mit ihr. Ihr Vater war schweren Herzens in England geblieben. Er war in einer Bank angestellt und an seinen Arbeitsplatz in London gebunden. Er wollte sie aber, sooft es ging, besuchen kommen.
    Anita hatte sich über den Umzug nach Venedig gefreut und fand es schön, ihre Hausaufgaben nachmittags im Garten der alten Stadtvilla erledigen zu können. Es war natürlich nicht ihr Haus, aber weil sie beinahe jede freie Minute hier verbrachte, fühlte es sich inzwischen wie ein Zuhause an.
    »Mama!« Anita betrat das Zimmer. »Hast du Mioli gesehen?«
    Mrs Bloom war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihre Tochter gar nicht hörte. Anita rief erneut nach ihr. Dann gab sie es auf. Sie legte ihren Rucksack an eine gut sichtbare Stelle neben der Tür, damit ihre Mutter sehen konnte, dass sie da gewesen war. Anschließend lief sie wieder die Treppe hinunter in den Garten, öffnete das Tor zur Straße und ging hinaus auf die Gasse, die von den letzten Sonnenstrahlen des Tages in ein goldenes Licht getaucht wurde.
    Anita spähte in jede Ecke hinein, lugte durch offen stehende Türen, suchte die Kletterpflanzen ab,

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