Knapp am Herz vorbei
auch kreativ, ein Erneuerer, und wie alle großen Künstler erwies er sich als zäher Überlebender. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen, entwischte jahrelang Polizisten und FBI -Agenten. Er war eine Mischung aus Henry Ford und John Dillinger – mit einem Hauch Houdini, Picasso und Rasputin. Die Reporter wissen alles über seine elegante Kleidung, sein schelmisches Lächeln, seine Liebe zu guten Büchern, das übermütige Schimmern in seinen strahlend blauen Augen, so blau, dass sie in einer Pressemitteilung des FBI einmal als
azurblau
beschrieben wurden. Nur ein besonderer Bankräuber entlockt dem FBI solche lyrischen Worte.
Was die Reporter nicht wissen und was sie wie die meisten Amerikaner immer gern gewusst hätten: War der für seine Gewaltlosigkeit berühmte Sutton an dem brutalen Unterweltmord an Arnold Schuster beteiligt? Schuster, ein jung aussehender Vierundzwanzigjähriger aus Brooklyn, Baseball-Fan und Veteran der Küstenwache, stieg eines Nachmittags in die falsche U-Bahn und sah sich Sutton gegenüber, dem damals meistgesuchten Mann Amerikas. Drei Wochen später war Schuster tot, und der Mord an ihm ist vielleicht der peinsamste ungeklärte Fall in der New Yorker Kriminalgeschichte. Zumindest ist er der peinsamste Teil der Legende um Sutton.
Die Wärter führen Sutton zurück zur Verwaltung. Ein Beamter stellt ihm zwei Schecks aus. Einen über 146 Dollar, der Lohn für siebzehn Jahre in unterschiedlichen Gefängnisjobs, abzüglich Steuern. Und einen über 40 Dollar, die Kosten für eine Busfahrkarte nach Manhattan. Jeder Haftentlassene bekommt Busgeld nach Manhattan. Sutton nimmt die Schecks – es ist also wirklich so weit. Sein Herz fängt an zu pochen. Sein Bein ebenfalls. Sie pochen sich wechselseitig an wie männliche und weibliche Hauptdarsteller in einer italienischen Oper.
Die Wärter führen ihn zurück in seine Zelle. Du hast fünfzehn Minuten, sagen sie und reichen ihm eine Einkaufstüte.
Er steht in der Mitte seiner Zelle, seinem 2 , 50 × 1 , 80 Meter großen Zuhause in den vergangenen siebzehn Jahren. Ist es möglich, dass er heute Nacht nicht hier schläft? Dass er in einem weichen Bett mit sauberen Laken und einem richtigen Kissen schläft, ohne gequälte Seelen über und unter ihm, die vor Ohnmacht, Wut und Raserei heulen, fluchen und flehen? Geräusche von Männern hinter Gittern sind mit nichts vergleichbar. Er stellt die Einkaufstüte auf den Schreibtisch und packt vorsichtig sein Romanmanuskript ein. Dann die Spiralblocks aus seinen Kursen in kreativem Schreiben. Dann die Ausgaben von Dante, Shakespeare, Platon. Dann Kerouac.
Im Gefängnis schwört man sich ein Recht auf Leben
. Ein Satz, der Sutton durch viele lange Nächte gerettet hat. Dann das Zitatelexikon mit dem berühmtesten Satz des berühmtesten Bankräubers Amerikas: Willie Sutton alias Slick Willie alias Willie the Actor.
Mit liebevoller Sorgfalt packt er den Ezra Pound ein.
Nun kommst du aus einem Menschengewühl
. Und den Tennyson.
Komm zu mir in den Garten, Maud. Ich steh hier am Tor allein.
Ihm steigen Tränen in die Augen. Wie immer. Schließlich packt er den gelben Notizblock ein, in den er geschrieben hatte, als die Wärter ihn holten. Und zwar nicht seinen Roman, den er vor kurzem beendet hat, sondern einen Abschiedsbrief, mit dessen Abfassen er eine Stunde nach der Ablehnung der Begnadigungskommission begonnen hatte. So geht es oft, denkt er. Der Tod steht vor deiner Tür, zieht sich die Hose hoch, zeigt mit dem Stock auf dich – und überreicht dir die Begnadigung.
Nachdem Sutton seine Zelle leergeräumt hat, lässt ihn der Vize ein paar Anrufe tätigen. Als Erstes wählt er die Nummer seiner Anwältin, Katherine. Sie ist außer sich vor Freude.
Wir haben es geschafft, Willie. Wir haben es endlich geschafft!
Und
wie
haben wir es geschafft, Katherine?
Sie waren es leid, gegen uns zu kämpfen. Es ist Weihnachten, Willie, und sie waren es einfach leid. Es war leichter aufzugeben.
Ich weiß, was in ihnen vorging, Katherine.
Und die Zeitungen haben mit Sicherheit auch ihren Teil dazu beigetragen, Willie. Sie waren auf deiner Seite.
Aus diesem Grund hat Katherine mit einer der größten Zeitungen eine Vereinbarung getroffen. Sie sagt auch, welche, aber Suttons Gedanken überschlagen sich, er kriegt den Namen nicht mit. Die Zeitung wird Sutton an Bord ihres Privatflugzeugs nach Manhattan bringen, ihn in ein Hotel einquartieren, und als Gegenleistung gibt er ihnen exklusiv seine
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