Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
auf.
»Dann könnte er mit mir zur Arbeit kommen. Das würde dir doch sicher Spaß machen, oder? Du könntest jeden Tag mit mir in einem schönen großen Haus sein«, sagt er zu dem Welpen in einem Tonfall, den ich nur noch als kindisch bezeichnen kann. Der Hund leckt ihm die Hand. »Das wäre doch okay, Doc? Ich bilde ihn aus, nehme ihn mit zum Tatort und bringe ihm bei, wie man anschlägt, wenn man etwas findet. Das wäre doch super, oder?«
Mir ist es inzwischen egal. Soll er doch auf einer Luftmatratze im Büro übernachten und dort einen Hund halten. Das alles ist jetzt nicht mehr wichtig. Obwohl ich ständig darüber nachgrüble, habe ich die wichtigste aller Fragen noch immer nicht beantwortet: Hätte ich ihn schwer genug verletzen können, um mich zu retten? Nicht dass ich mich nicht bemüht hätte. Ich bin ziemlich sicher, dass ich versucht hätte, auf sein Gesicht zu zielen. Allerdings ist die Klinge eines Skalpells sehr kurz und schmal und kann sich vom Griff lösen.
Ich hatte eine winzige Chance, die ich zum Glück nicht nutzen musste. Dennoch kann ich an nichts anderes mehr denken, denn mir wurde wieder einmal vor Augen gehalten, dass die in meinem Beruf verwendeten Gerätschaften niemanden retten können. Noch während ich mir das sage, weiß ich, dass es nicht ganz stimmt. Ich muss endlich mit dieser verdammten Grübelei aufhören.
»Ich zermartere mir das Hirn nach einem Namen«, sagt Marino. »Vielleicht Quincy. Was meinst du, soll ich dich Quincy nennen?«, sagt er zu dem Welpen. Ich kann es nicht ausstehen, in so negativer Stimmung zu sein.
Natürlich könnte man einwenden, dass ich ein oder sogar mehrere Menschenleben rette, wenn ich einem Mörder das Handwerk lege. Mit dem, was ich Tag für Tag tue, verhindere ich weitere Gewalttaten. Al Galbraith war noch nicht am Ende seines Kreuzzugs angelangt. Laut Benton hatte er gerade erst angefangen. Seine Mutter, Mary Galbraith, lebe schon seit Jahren im Fayth House. Sie habe vor etwa zehn Monaten einen Schlaganfall erlitten und sei seitdem nicht mehr ansprechbar. Offenbar war das der Auslöser, sofern man versuchen will, das Unerklärliche zu erklären.
Galbraith ist das jüngste Kind einer wohlhabenden und sozial engagierten Familie aus Pennsylvania, die verschiedene Farmen, Gestüte und Weingüter besitzt. Er hat seinen Abschluss in Yale gemacht, nie geheiratet und hasst seine Mutter wie die Pest. Sie war Historikerin, Mitglied der Society of Civil War Historians und hat sich für die Pfadfinderinnen engagiert. Und er hätte sie gar nicht oft genug umbringen können.
»Welcher Wein?« Lucy kommt mit mehreren Flaschen herein.
Janet hat bereits ein Glas. Ich wische mir die Hände an der Schürze ab und studiere das Etikett.
»Nein.« Ich wende mich wieder dem Teig zu, bemehle ihn, knete ihn und ziehe ihn vorsichtig zu einer Scheibe auseinander. »Die Pinots aus Oregon.« Ich bearbeite den Teig mit den Fingerknöcheln, um keine Löcher hineinzubohren. »Die wundervolle Kiste, die du mir zum Geburtstag geschenkt hast. Der Domaine Drouhin unten im Keller.«
Janet erbietet sich, ihn zu holen. Ich nehme die Finger auseinander, drehe den Teig und glätte ihn. Das wird die erste Pizza, eine mit Pilzen, extraviel Sauce, extraviel Käse, extraviel Zwiebeln, doppelt Räucherspeck und eingelegten Jalapenos. Marinos Pizza. Ich bitte Lucy, mir den frischgeriebenen Parmigiano-Reggiano und den Vollmilch-Mozzarella aus Kühlschrank Nummer zwei zu holen, und schlage Marino vor, mit den beiden Hunden in den Garten zu gehen.
»Siehst du?«, sage ich zu Lucy, nachdem er draußen ist. »Ich musste ihn darauf hinweisen. Genau das macht mir Sorgen. Eigentlich sollte er von selbst auf den Gedanken kommen, dass der Hund mal rausmuss.«
»Das klappt schon, Tante Kay, er liebt diesen Hund.«
»Manchmal reicht Liebe nicht. Um ein Tier muss man sich auch kümmern.« Ich fange mit dem nächsten Pizzaboden an.
»Vielleicht lernt er es ja endlich. Wie man sich um jemanden kümmert. Und auch um sich selbst. Es wird langsam Zeit.« Lucy stellt die Schüssel mit dem Käse auf die Arbeitsfläche. »Möglicherweise braucht er einen Grund, sich die Mühe zu machen. Es könnte ja sein, dass man sich etwas wünschen muss, um endlich aufzuhören, um sich selbst zu kreisen.«
»Es freut mich, dass du das so siehst.« Ich wende den Boden und lege ihn in eine eingefettete und bemehlte Pizzapfanne, wohl wissend, dass Lucy von sich und den Ereignissen in ihrem eigenen Leben spricht.
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