Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
gesehen haben.
»Er bringt ihn noch um. Gut, Marino, es reicht. Nicht dass ich ihm einen Vorwurf daraus mache.« Sie schaut in Richtung Lagerhaus, während ich ihr Gesicht mustere. »Ist wirklich alles okay? Am besten setzt du dich hinten in den Streifenwagen. Dann suche ich dir etwas für deine Füße.«
Sie hat ihr Haar ziemlich kurz geschnitten. Es wirkt eher blond als braun, und sie ist zwar sehr hübsch, aber älter geworden. Mitte dreißig, etwa in Lucys Alter. Als ich sie zuletzt gesehen habe, war sie knapp zwanzig. Sie legt den Arm um mich und begleitet mich zu dem Crown Victoria von Sil Machado, der gerade aus dem Wagen springt. Ich steige hinten ein, lasse die Tür weit offen und reibe mir die Füße.
»Ich warte auf eine Erklärung«, sage ich zu Janet.
Unsere letzte Begegnung liegt etwa fünfzehn Jahre zurück. Damals haben sie und Lucy eine Wohnung in Washington, D.C., geteilt. Lucy war beim ATF und Janet beim FBI . Ich habe sie immer gemocht. Die beiden haben gut zusammengepasst. Seitdem hatte Lucy nicht mehr so viel Glück mit Beziehungen.
»Wie ich feststelle, hast du keine Waffe und scheinst auch niemanden verhaften zu wollen«, fahre ich fort. »Tut mir leid, dass ich so auf der Leitung sitze. Wenn mir nur endlich der Kopf abfallen würde. Dann täte er vielleicht nicht mehr so weh.«
»Ich bin nicht mehr beim FBI oder bei der Polizei«, erwidert Janet, »sondern Anwältin. Eine dieser grässlichen Landplagen, nur noch schlimmer. Ich habe mich auf Umweltrecht spezialisiert. Alle lieben mich.«
»Solange du nur kein Schwein adoptierst. Lucy droht immer damit. Und wer darf sich dann darum kümmern, wenn sie, wie so oft, verreist ist? Ich!«
»Wahrscheinlich weißt du nicht, was er mit deinen Schuhen gemacht hat.«
»Hinten im Wagen müsste ein Karton mit Überschuhen sein.« Ich deute auf den SUV , in dem ich gerade gefangen gehalten worden bin. Dabei fällt mir ein, dass alle Fahrzeuge des CFC mit Satelliten-Ortungssystemen ausgestattet sind. »Die mit den PVC -Sohlen, damit ich darin herumlaufen kann«, meine ich zu ihr. »Ihr seid mir hierher gefolgt. Aber warum?«
»Du hast Lucy eine SMS geschickt, dass du sie anrufen würdest, sobald du im Auto sitzt«, entgegnet sie. »Und das hast du nicht getan.«
»Und das hat ihr schon gereicht, um mich zu orten?«
»Das tut sie öfter, als du glaubst. Dich, mich, praktisch jeden. Sie wusste, dass du im Fayth House warst. Doch danach bist du in Richtung Boston anstatt nach Hause gefahren. Außerdem hattest du Benton einige ziemlich dringende Nachrichten hinterlassen.«
Sie erklärt mir, dass sie ohnehin ganz in der Nähe des Fayth House waren, weil sie Marino zu seinem Haus in Cambridge fahren wollten. Dabei hätten sie darüber gesprochen, aus welchem Grund Mildred Lott wohl bei Dunkelheit das Haus verlassen haben könnte.
»Sie dachte, sie hätte Jasmine im Garten gehört«, erklärt Janet. »Sie hat den Namen ihres Hundes gerufen.«
Ich weiß, dass Lucy mit britischen und deutschen Forschern an einem computergestützten Programm arbeitet, das von den Lippen ablesen kann. Laut Janet kann die Software inzwischen sogar dann eingesetzt werden, wenn die betreffende Person bis zu hundertsechzig Grad zur Seite gewandt ist. In anderen Worten kann man die Lippenbewegungen mit bloßen Auge zwar kaum erkennen, aber der Computer schafft es.
»Sie hat sich von der Kamera weggedreht und in die Richtung geschaut, aus der das Geräusch vermutlich kam«, erklärt Janet. »Die Überwachungskamera hat sie nur von der Seite aufgenommen, und es sieht ein bisschen so aus, als spräche sie den Namen ihres Mannes aus.«
Ich halte Ausschau nach Benton und frage mich, ob er hier ist. Sicher hat er Agents und Polizei alarmiert, und wenn ja, weiß ich, was das zu bedeuten hat. Er hat festgestellt, dass ich mit meiner Befürchtung recht habe. Douglas Burke war hier, um Channing Lott zur Rede zu stellen, dessen Firmenzentrale sich in der Ferne hinter dem im Trockendock liegenden Lazarettschiff erhebt. Es ist ein riesiges weißes Gebäude aus der Vorkriegszeit mit Hunderten von Fenstern. Um diese Uhrzeit sind die meisten von ihnen dunkel.
»Ich kann nachvollziehen, warum ein Staatsanwalt es so deuten wollte«, fährt Janet fort. »Nicht
Channing,
sondern
Jasmine.
Sie hat ihren Hund gerufen und dabei sehr froh, aufgeregt und begeistert ausgesehen, allerdings auch ängstlich, und jetzt kennen wir den Grund.«
Inzwischen sind meine Füße nicht mehr taub, sondern
Weitere Kostenlose Bücher