Nachtwandler (German Edition)
Prolog
Sonnenuntergang. Endlich!
Ich liebe den Sonnenuntergang. Ich brauche ihn. Den ganzen Tag lang warte ich auf genau diesen Augenblick. Ich lebe dafür. Des Alarms meines iPhones bedarf es eigentlich gar nicht. Ich bemerke auch so sofort den Zeitpunkt - auf die Sekunde genau.
Es beginnt, wie immer, mit einem leichten Kribbeln in den Fingerspitzen, das mit jedem Augenblick stärker wird. Dann breitet es sich aus, bis es von meinem kompletten Körper Besitz ergriffen hat. Gewaltige Hitzeschübe lassen mich lichterloh brennen. Meine Haut dampft, die Lider flattern, ich zittere trotz der Hitze so stark, dass meine Zähne aufeinander schlagen. Von meiner Umwelt bekomme ich überhaupt nichts mehr mit. Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren überdeckt auch das lauteste Geräusch. Neben mir könnte eine Bombe hochgehen und ich würde es nicht bemerken. Nach exakt zwei Minuten ist der Spuk vorüber. Völlig erschöpft und schweißgebadet liege ich in meiner Badewanne. Ich habe mir in all den Jahren angewöhnt, die Verwandlung genau hier über mich ergehen zu lassen. Anfangs hatte ich mich dafür in mein Bett gelegt, mit dem Resultat, dass anschließend alles, sogar die Matratze, durchnässt war von meinem Schweiß.
Zwei Flaschen Wasser mit sehr hohem Gehalt an Mineralstoffen stehen auf der Ablage bereit. Nicht eiskalt, nur zimmertemperiert. Auch das habe ich mit der Zeit gelernt. Ebenso, dass mich Traubenzucker und Schokolade sehr viel schneller wieder auf die Beine bringen als diese ganzen isotonischen Sportgesöffe.
Zuerst setze ich eine der beiden Flaschen Wasser an. Binnen Sekunden ist sie leer. Auch das habe ich perfektioniert. Nur keine Zeit verschwenden. Nächte können mitunter sehr kurz sein, besonders im Sommer – und das meine ich keineswegs metaphorisch. Es ist der 12. August, in genau 9 Stunden und 27 Minuten wird die Sonne wieder aufgehen und dann es ist vorbei, zumindest bis zum nächsten Sonnenuntergang. Für seine langen Nächte liebe ich den Winter, obwohl ich die Kälte nicht mag.
Eine weitere Flasche Wasser, fünf Schokoriegel und eine Packung Dextro Energy später haben sich Kreislauf und Blutzuckerspiegel wieder so weit erholt, dass ich aufstehen kann. Die Verwandlung kostet mich unglaublich viel Kraft, beschissene zwei Male am Tag – und das seit nunmehr fast zehn Jahren. Den Kram bestelle ich schon lange im Internet en masse. Der Supermarkt an der Ecke kann das Zeug einfach nicht so schnell ranschaffen, wie ich es verbrauche. Außerdem habe ich keine Lust auf Fragen, die ich nicht beantworten möchte. Mein Leben geht niemanden etwas an. Die Wahrheit würde ohnehin kein Schwein glauben. Deswegen wissen auch nur eine Handvoll Menschen davon, meine Eltern zum Beispiel. Mein Vater ist gewissermaßen sogar für meinen Zustand verantwortlich.
Ich steige noch recht wackelig aus der Badewanne und hinein in meine ebenerdige Dusche. Ich stelle das Wasser an und schließe genüsslich die Augen, als mich das kühlende Nass aus mehreren Düsen von Decke und Wänden trifft. Blind greife ich nach dem Duschgel und schäume mich zwar schnell, jedoch gründlich ein. Ich verschwende keine Sekunde länger als nötig. Zum Abtrocknen stelle ich mich vor den mannshohen Spiegel in meinem Badezimmer. Mir gefällt, was ich sehe. Darf ich das überhaupt sagen, ohne gleich als Narzisst abgestempelt zu werden? Aber warum sollte ich lügen, ich gefalle mir wirklich. Zumindest in der Zeit nach Sonnenuntergang. Meine Tag-Gestalt wiederum mag ich nicht besonders. Vielleicht liebe ich mein derzeitiges Erscheinungsbild deshalb so sehr. Ich bin groß – 1,85 m, schlank, aber nicht schlaksig. Mein durchtrainierter Körper hat mich eine Menge Mühen und Zeit gekostet, aber es hat sich gelohnt, sehr sogar. Mein Blick fällt auf das großflächige Tribal, das sich vom Oberschenkel über die linke Pobacke bis zur Hälfte des Rückens hinauf zieht. Ich habe es mir etwa zur gleichen Zeit stechen lassen, als ich das Gebäude hier gekauft habe.
Mit dem Handtuch um den Hals wende ich mich vom Spiegel ab und dem Waschbecken zu. Kritisch betrachte ich mein Gesicht und greife schließlich nach dem Rasierschaum. Wie jeden Abend suche ich nach Ähnlichkeiten, während ich den Schaum verteile. Es sind jedoch nur meine Augen, die sich niemals verändern, egal zu welcher Tageszeit: Grün mit hellbraunen Sprenkeln darin.
Ich lasse lauwarmes Wasser in das Waschbecken laufen, tauche das Rasiermesser kurz hinein, recke das Kinn und setze die
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