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Knochenbrecher (German Edition)

Knochenbrecher (German Edition)

Titel: Knochenbrecher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Flessner
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Kinder, die großmäulig angekündigt hatten, keine Angst zu haben und daher das Hexenhaus noch in der kommenden Nacht inspizieren zu wollen. Von all diesen Kindern, versicherten die im Voraus bezahlten Erzähler, die kaum älter waren als Greven, sei nie wieder etwas gesehen worden. Auch konnte sich Greven erinnern, dass die Anzahl der auf diese Weise verschwundenen Kinder im Laufe der Zeit auf beunruhigende Weise angestiegen war. Noch erstaunlicher als das permanente Verschwinden von Kindern war jedoch die Tatsache, dass Greven, obwohl er in einem kleinen, überschaubaren ostfriesischen Fischerdorf lebte, vorher von keinem der Opfer auch nur den Namen gehört hatte. Seltsamerweise schienen die betroffenen Kinder ausnahmslos aus anderen Dörfern zu stammen und auf andere Schulen zu gehen als auf die seine, denn Mitschüler waren von dem unersättlichen Appetit ausgenommen, den das Haus mit den zwei Giebeln entwickelte, und um das er immer einen großen Bogen machte.
    Doch jetzt, mit einundfünfzig Jahren, hatte ihn das Hexenhaus doch noch erwischt. Das Wartezimmer, in das ihn Tante Hedda geführt hatte, war die kleine Küche des Hauses, die eine Attraktion für jedes ostfriesische Heimatmuseum gewesen wäre. Den gusseisernen Herd mit blank polierter Reling schätzte er auf gut achtzig Jahre. Also etwa so alt wie Tante Hedda, die noch kleiner und zierlicher war, als er sie in Erinnerung hatte, aber hellwache, leuchtend blaue Augen besaß, die seine Skepsis offenbar sofort registriert hatten. »Büst du dat mit de Knee?«, hatte sie spitz gefragt und ihn auf den Hörnstuhl gelotst, der direkt neben dem Herd stand. Über dem Stuhl hing, schon stark vergilbt, Jean-François Millets Ährensammlerinnen . Offensichtlich ein Klassiker altostfriesischer Wohnkultur. Der Küchentisch war, der Größe der Küche entsprechend, winzig, eher ein Beistelltisch, für zwei Personen gerade ausreichend. Ein weiterer Stuhl und ein schmaler Küchenschrank, der nicht abgebeizt war, wie allgemein üblich, sondern noch eine alte Lackierung besaß, die eine Eichenholzmaserung imitierte, vollendeten das Mobiliar. Zeitschriften wie im Wartezimmer einer Arztpraxis gab es nicht, dafür einen gut besuchten Fliegenfänger, der sich von der niedrigen Decke bis fast auf den Tisch schraubte. Wann die mit Kalkfarbe gestrichenen Wände tatsächlich einmal weiß gewesen waren, konnte Greven allenfalls ahnen.
    Nachdem Tante Hedda ihm dreißig Euro abgenommen hatte, wie auf dem Schulhof musste man bei ihr grundsätzlich im Voraus zahlen, war sie wieder in ihr gleich nebenan gelegenes Behandlungszimmer verschwunden. Ein dringender Fall. Autodidakten wie Tante Hedda wurden in Ostfriesland Knakenbreker oder Beenlapper genannt. Jedenfalls waren Greven die immer noch und immer wieder beliebten Heiler unter diesen Namen bekannt. Es gab Menschen, die erst einen Knakenbreker aufsuchten, bevor sie zu einem Arzt gingen. Offensichtlich gab es sogar Exfrauen renommierter Ärzte, er dachte an Aline, die sich ab und zu in die Hände dieser Heiler begaben. Eine Art medizinischer Schwarzmarkt, auf dem alles angeboten wurde, was von der etablierten Medizin Enttäuschte, nach letzten Strohhalmen Greifende, auf Alternativen Setzende oder gewöhnliche Hexenschussopfer suchten. Manche Knakenbreker renkten nur Wirbel wieder ein und massierten verspanntes Gewebe, so wie Tante Hedda, andere offerierten magische Kräfte, angeblich vererbt über Generationen, und ließen ihre Hände lediglich über den betroffenen Körperstellen kreisen. Einigen wenigen Wunderheilern eilte sogar der Ruf voraus, selbst Todkranke noch in letzter Minute retten zu können. Greven jedoch kannte keinen auf diese Weise Genesenen. So wie er auch keines der Kinder gekannt hatte, die für immer in diesem Haus, in dem er jetzt saß, verschwunden sein sollten. Er kannte nur die Gerüchte, die notorischen Zweiflern wie ihm von Bekannten oder Freunden allerdings nur ungern erzählt wurden.
    Während Greven auf dem durchgesessenen Hörnstuhl hin und her rutschte und seine Zweifel mit seiner Hoffnung auf ein schmerzfreies Knie rangen, ging es im Behandlungsraum offenbar zur Sache. Tante Hedda schien besonders widerspenstige Knochen zu bearbeiten, denn er konnte ein deutliches Stöhnen hören. Irgendetwas wurde über den Boden geschoben, auf dem gleich drauf etwas klatschend landete. Wieder ein Stöhnen und ein Geräusch, als würde jemand mit der flachen Hand auf eine stabile Tischplatte schlagen.
    Es waren nicht

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