Knochenbrecher (German Edition)
und die Arbeit unwiderruflich beenden. Die Sonne stand schon tief, und es war spürbar frisch geworden. Der August spielte Herbst. Gestern hatte er sogar einen Schwarm Zugvögel Richtung Süden fliegen sehen. Kurz blickte er auf und folgte einer der schnellen, tiefen Wolken. Was war da besser als ein irischer Whiskey?
Suhrmann tanzte die Stufen hinunter und angelte sich aus einem der vielen Kartons ein passendes Glas. Die Flasche war nicht so schnell zu finden. Sie musste in seiner Reisetasche bei den Zigaretten sein. Also machte er eine Neunzig-Grad-Drehung und peilte die große Holzkiste an, die mitten im Raum stand. Doch es gelang ihm nicht, die Drehung rechtzeitig zu beenden, er taumelte, manövrierte unbeholfen und stieß mit dem rechten Knie an die Kiste. Es dauerte lange, bis ihn der Schmerz erreichte, durch seinen Körper wanderte und sich in seinem Kopf ausbreitete. Für einen Moment schien die Kiste sich durch den Raum zu bewegen und ihm war, als würde er das Gleichgewicht verlieren, doch dann blieb sie endlich stehen. »Drei Stunden auf den Knien pinseln!«, fluchte er halblaut und beschloss, dafür der Flasche den Garaus zu machen. Erst jetzt spürte er die Müdigkeit, die der lange Arbeitstag hinterlassen hatte. Sein Magen war auch leer und maulte.
Als sich Suhrmann über die Tasche beugte und zwischen seinen Arbeitshemden- und -hosen zu suchen begann, tauchte plötzlich eine zweite Tasche auf, die der ersten bis auf jede Faser glich. Er kniff kurz die Augen zu. Beide Taschen waren noch da. Sie vibrierten leicht. Sie zitterten wie eine Luftspiegelung über dem heißen Watt. Er hob die rechte Hand, um sich die Lider zu reiben, brachte es aber nicht fertig, den Arm zu heben. In diesem Augenblick gab sein rechtes Bein nach. Unendlich langsam und dennoch rasend schnell sackte er nach vorne, schlug auf der Kiste auf, rutschte von ihr herunter und landete bäuchlings auf den Eichenplanken, die sich langsam zu drehen begannen, zur Decke wurden, sich verformten, die Farbe änderten und in einer trudelnden Bewegung in der nachtschwarzen Röhre eines endlosen Tunnels verschwanden.
2
Für heute war Schluss. Der Tag, den Greven hinter sich gebracht hatte, kam ihm vor, als hätte er aus mindestens zweien bestanden. Vielleicht, weil er gerade in zwei Fällen ermittelte, die eine erstaunliche Ähnlichkeit miteinander hatten, so dass ihm die Vernehmungen manchmal wie ein Déjà-vu erschienen. Doch auch das heutige Wiederholungsprogramm hatte ihn nicht weitergebracht. Er trat mal wieder auf der Stelle, schlimmer, auf zwei Stellen, falls es für diese Redewendung überhaupt eine Art von Plural gab. Für Greven stand dies außer Frage angesichts des Tages, den er irgendwie zweimal hatte absolvieren müssen.
Noch bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte, beschloss er, diesen Doppeltag mit einem doppelten Whisky und einer Doppel-LP zu den Lebensakten zu legen. Wenn schon doppelt, dann richtig. Einen Single Islay Malt und die Third von Soft Machine. Oder Bill Frisells East/West . Mona war bestimmt noch in der Stadt. Er konnte also die Boxen anständig lüften.
Greven ließ seinen Aktenkoffer im Flur mehr oder weniger aus der Hand fallen und ging an der Küche vorbei ins Atelier, das bruchlos in jenen Raum überging, der allgemein Wohnzimmer genannt wird, ganz so, als wären die anderen Räume eines Hauses unbewohnt. Neben dem Sofa ließ er seine Jacke auf den Boden tropfen und zog nach kurzer Überlegung Bitches Brew von Miles Davis aus dem Plattenregal. Mit Pharaoh’s Dance wollte er die bösen Geister vertreiben. Nachdem sich die Nadel langsam auf der Rille eingefunden hatte, drehte er den Regler des Verstärkers auf fünf. Schon meldeten sich die drei Pianisten Joe Zawinul, Larry Young und Chick Corea, die neben Bennie Maupin an der Bassklarinette zunächst das Zwanzigminutenstück dominierten. Vom ersten Takt an war die Spannung vom August 1969 zu spüren, die Miles Davis im Studio aufgebaut hatte. Was für ein Stück. Die Pharaonen hätten nicht schlecht gestaunt. Als die Trompete in die Spannung fand, sie zerschnitt und gleichzeitig noch einmal verstärkte, erreichte Greven, das bauchige Nosing Glass in der Hand, das Vertiko. Mit geschlossenen Augen, eine seiner Lieblingspassagen verfolgend, öffnete er die Türen und suchte blind sein Ziel. Seine Nase konstruierte längst die typische Torfigkeit und das klar erkennbare Sherryaroma.
Doch seine tastende Hand wurde nicht fündig. Die Flasche, die vor
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