Knochenraub am Orinoko
auch besser, wenn wir ihnen so schnell nicht mehr begegnen.«
»Wieso? Wovor haben Sie denn Angst?«, fragte Bonpland herausfordernd.
»Das wissen Sie ebenso gut wie ich«, entgegnete Humboldt gereizt.
»Und wieso sollen wir den Indianern nicht mehr begegnen?«, hakte Pedro nach. Er spürte, dass die beiden Männer sich vor irgendetwas fürchteten. Doch wovor genau?
»Der Anführer hat uns verflucht. Wir müssen damit rechnen, dass sie wiederkommen, um sich zu rächen«, gab Bonpland zu, »zumindest haben sie das angekündigt.«
»So ein Unfug!«, fuhr ihm Humboldt dazwischen.
Aber an seiner Stimme hörte Pedro, dass Humboldt sehr wohl beunruhigt war. »Sich rächen? Glauben Sie etwa, die Indianer kommen heute Nacht zurück?«
Bonpland öffnete den Mund, doch Humboldt war ihm mit seiner Antwort voraus: »Ganz sicher nicht. Und jetzt schlage ich vor, dass du dich mit Abasi in die Piroge zum Schlafen legst. Bonpland und ich haben noch etwas am Feuer zu besprechen.«
Pedro wechselte mit Abasi einen schnellen Blick, auch ihm lagen noch tausend Fragen auf der Zunge. Doch anders als Pedro war Abasi als ehemaliger Sklavenjunge daran gewöhnt, ohne Protest zu gehorchen.
Er nickte stumm und stand bereits auf. »Komm, Pedro. Wir schlafen.«
Pedro legte den Stock, auf dem der letzte Fisch langsam verkohlte, nieder und folgte Abasi zu ihrem Boot. Pedro versuchte, es sich auf dem Boden der Piroge so bequem wie möglich zu machen, doch an Schlaf war nicht zu denken. Dazu war er viel zu aufgeregt. Bilder von Menschenknochen schossen ihm durch den Kopf, das Geschrei der wutentbrannten Indianer und der Vogel, der über ihren Köpfen kreiste. Tikitiki hatten sie ihn genannt. Den Totengott.
Bis auf den fahlen Lichtschein des Lagerfeuers war es stockdunkel. Sanft plätscherte das Wasser gegen den hölzernen Rumpf der Piroge und gelegentlich trug der Wind einige Wortfetzen vom Gespräch der beiden Männer herüber. Gleichmäßige Atemzüge an seiner Seite verrieten Pedro, dass Abasi eingeschlafen war. Das beruhigte Pedro, vielleicht war von den Indianern doch keine Rache zu erwarten. Und allmählich spürte er, wie seine Arme und Beine schwerer und die Gedanken in seinem Kopf immer träger wurden, bis auch er in den Schlaf hinüberglitt.
Plötzlich ließ ihn ein ungewohntes Geräusch hochfahren. Er war augenblicklich hellwach und stützte sich auf den Ellbogen, um über den Rand der Piroge aufs Ufer zu spähen. Das Feuer war heruntergebrannt.Humboldt und Bonpland lagen im schwachen Schein der Glut in ihren Hängematten und schliefen. Da war nichts! Merkwürdig. Aber er hatte etwas gehört, ganz sicher. Pedro drehte sich um und erschreckte sich fast zu Tode. Für eine Sekunde glaubte er, sein Herz würde aussetzen. Nur einige Meter vom Ufer entfernt lagen mindestens ein halbes Dutzend Langboote im Wasser, in denen dunkle Gestalten hockten. Die Indianer! Sie waren zurückgekommen. Nahezu lautlos tauchten sie die Ruder ins Wasser und kamen immer näher heran. Es war das sanfte Wasserplätschern gewesen, das ihn geweckt hatte.
Was soll ich nur machen?, dachte Pedro. Panik überfiel ihn. Er senkte wieder den Kopf und rutschte lautlos zu Abasi herüber. »Abasi«, flüsterte er ihm ins Ohr und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter. »Wach auf!«
Abasi schlug die Augen auf. In der Dunkelheit konnte Pedro in seinem Gesicht nur das Weiß seiner großen Augen erkennen. Bevor Abasi den Mund öffnen konnte, legte Pedro den Zeigefinger auf die Lippen und flüsterte: »Psst! Die Indianer kommen!«
Erschrocken riss Abasi seine Augen noch weiter auf. Vorsichtig reckten beide ihre Köpfe über denBootsrand. Die Indianer waren am Ufer angelangt! Nur wenige Meter von ihrer Piroge entfernt stiegen die ersten aus ihren Langbooten, zogen sie auf den Strand hoch und huschten auf leisen Sohlen über den Sand auf das Lager zu. Die Jungen zogen erschrocken die Köpfe wieder ein. Pedro überlegte fieberhaft, was er tun sollte! Sich still verhalten und abwarten, was passieren würde? Noch hatte sie niemand in der Piroge entdeckt. Oder sollte er sich bemerkbar machen, um Humboldt und Bonpland zu warnen? Wie konnten die beiden in so einem Moment nur so tief schlafen? Wieso hielt nicht einer von ihnen Wache in einer solchen Nacht?
Pedro kam nicht mehr dazu, weitere Gedanken anzustellen, denn mit der gespenstischen Ruhe war es schlagartig vorbei. Sobald die Indianer die beiden Forscher in ihren Hängematten entdeckt hatten, brachen sie in wütendes
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