Knochenraub am Orinoko
an den hervorspringenden Felsbrocken Halt für den nächsten Schritt zu finden. »Pedro, pass gut auf, dass dir kein loser Stein auf den Kopf fällt.«
Pedro war dicht hinter Bonpland. Er spähte kurz nach unten. Puh, war das hoch! Doch die Aussicht von hier oben war grandios. Endlich konnte man einmal über den Dschungel hinweg in die Ferne blicken. Wie ein Meer aus Bäumen breitete sich der Wald vor seinen Augen aus. Unter ihm schäumte der Orinoko. Gigantische Felsbrocken, die über Kilometer hinweg im Fluss verstreut lagen, als hättenRiesen sie dorthin geschleudert, versperrten dem Wasser den Weg, sodass sich tosende Stromschnellen bildeten.
Pedro dachte an die Totenhöhle, in die sie gleich gehen würden, und schauderte. Der Ort war ihm nicht ganz geheuer. Was, wenn es dort wirklich spukte? Abasi hatte scheinbar auch seine Zweifel, von ihm hatte man den ganzen Morgen keinen Ton mehr gehört.
Bonpland und Pedro erreichten als Letzte die Kuppe. Sie mussten noch einige Meter durch dichtes Laubholz gehen, dann standen sie plötzlich vor einem tiefen Gewölbe, das sich wie ein dunkler Schlund in der Felswand öffnete.
»Na los, worauf warten wir?«, drängelte Humboldt.
Die Indianer schüttelten unwillig den Kopf. Sie waren schon die ganze Zeit über missmutig gewesen, jetzt aber waren sie störrisch wie Esel und weigerten sich strikt, auch nur einen Schritt weiterzugehen.
»Sollen wir nicht doch besser umkehren?«, schlug Bonpland vor. Humboldt stöhnte und zog genervt die Augenbrauen hoch.
»Abasi da nix rein!«
Pedro blickte ihn erstaunt an. Abasi hatte die Armevor der Brust verschränkt und stellte sich demonstrativ neben die zornig dreinblickenden Indianer. Es war das erste Mal, dass Abasi sich einem Vorhaben von Humboldt verweigerte.
»Wir könnten doch wenigstens mal reingucken«, warf Pedro zaghaft ein. Trotz seiner eigenen Bedenken war er doch auch ziemlich neugierig, die vielen Menschenskelette zu sehen. Und eigentlich hatte Humboldt ja auch recht, die Geschichten des verrückten Don Ignacio waren bestimmt nur Ammenmärchen. Vor den Toten brauchte man sicher keine Angst zu haben.
»Also los, Pedro. Dann gehen eben nur wir beide«, forderte ihn Humboldt kurz entschlossen auf. »Für die Forschung muss man Wagnisse eingehen!«
Pedro entging nicht, wie Humboldt seinem Begleiter Bonpland einen verächtlichen Blick zuwarf.
»Na gut!« Bonpland seufzte und sagte an Abasi gewandt: »Du kannst mit den Indianern hier draußen warten, in Ordnung?«
»Toten machen fürchterliche Rache!«, hörte Pedro Abasi noch hinter ihrem Rücken sagen.
Wegen des grellen Lichts konnte Pedro in dem dunklen Höhlengang zunächst nichts erkennen. Er lauschte in die Stille hinein. Was für eine düstereGruft! Plötzlich rauschte etwas dicht an seinem Ohr vorbei. Pedro zuckte zusammen und ihm entfuhr ein unterdrückter Schrei.
»Keine Angst«, besänftigte ihn Bonpland, »das war nur eine Feldermaus, die wir aufgescheucht haben.«
Langsam gewöhnten sich Pedros Augen an das düstere Licht. Humboldt war bereits einige Schritte vorausgelaufen. Dort hinten ging die Höhle in einen größeren Raum über. An den Wänden standen zahlreiche geflochtene Körbe aus Palmstielen. Pedro hielt die Hand vor die Nase. Es stank entsetzlich. Außerdem war es stickig hier drin, man bekam kaum Luft. Pedro hatte das Gefühl, dass ihm sofort übel werden würde, wenn er auch nur einen tiefen Atemzug nahm.
»Warum stinkt es hier so?«, fragte er mit zugehaltenem Mund.
»Das sind die Knochen«, antwortete Humboldt. »Um sie haltbar zu machen, haben die Indianer sie mit dem streng riechenden Harz der Pisang-Blätter eingerieben.« Während Humboldt seine Erklärungen von sich gab, öffnete er nacheinander verschiedene Körbe. »Schau an!«, sagte er mehr zu sich selbst. Dann griff er in einen kleineren Korb hinein und holte mit beiden Händen vorsichtig ein komplettesMenschenskelett heraus. Es war winzig und hatte die Arme dicht um den Körper geschlungen.
»Das ist das Skelett eines Kindes«, flüsterte Humboldt ehrfürchtig.
Bonpland war an Humboldts Seite getreten und sagte leise: »Die sitzen ja alle in diesen Körben. Sonderbar, als würden sie auf etwas warten.«
»Aber worauf denn?«, fragte Pedro. Er traute sich nur zu flüstern.
»Die Indianer glauben, dass nach dem Tod die Seele des Verstorbenen auf eine Reise geht. Und für diese Reise müssen sie zahlreiche Hindernisse überwinden und Prüfungen bestehen«, erklärte Bonpland
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