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Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Titel: Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Fischer , Manfred Maurenbrecher
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D er Blick aus dem Küchenfenster auf die Brandmauer gegenüber und den schmalen Innenhof ist immer noch ungewohnt. Auch die türkischen Sprachfetzen, die manchmal hochschallen, die Temperamentsausbrüche der fremden Nachbarn. Die Wohnung ist klein, wenig Licht.
    Ein junges Paar mit Kind lebt hier.
    Gewöhnlich treibt es den Ehemann immer schon früh aus dem Haus, um in der fremden Umgebung neue Kontakte zu knüpfen und geschäftlich Fuß zu fassen. Die ungarische Schwiegermutter, die im gleichen Haus wohnt, spricht kein Deutsch und lässt sich nur manchmal blicken.
    Wie jeden Mittag gehen die junge Mutter und ihr Sohn nach dem Essen zum Humboldthain – sie nennen ihn Rosenpark. Weil sie neuerdings im Wedding wohnen, ist es ihr wichtig geworden, dass sie den anderthalbjährigen Benjamin viel an die frische Luft bringt – wie das eine gute Mutter so tut. Und diese junge Mutter fühlt sich in ihrer Rolle noch ungeübt. Aber Benjamin bekommt, was er braucht, um gesund aufzuwachsen.
    Die Dreißigjährige schiebt jetzt den Kinderwagen mit einer inneren Selbstverständlichkeit zum Park, trotz ihrer Zerrissenheit. Sie fühlt sich heute wieder mal wie in Trance. Benjamin bemerkt davon nichts, er möchte einfach nur spielen. Manchmal wünscht sie, sie könnte all dem Neuen hier auch so begegnen, wie in einem Spiel. Denn alles ist neu für sie: ihre Mutterrolle, die Zurückgezogenheit und diese völlig andere Umgebung – die Realität eines Lebens in Westberlin. Sie muss das alles nämlich erst einmal zulassen. Das hier soll jetzt ihr Zuhause sein.
    Seit sie hier lebt, hat sie eigentlich vor allem mit ihrem Mann, der Ungar ist, und der Schwiegermutter engeren Umgang. Die Gespräche mit anderen Frauen hier – Müttern, Hausfrauen zumeist – unterscheiden sich sehr von den Kontakten zu Gleichaltrigen, zu Künstlerinnen und Kollegen, wie es sie in der Halbstadt nebenan so selbstverständlich gegeben hatte. Sie zeigen ihr nur, wie anders sie ist. Und was sie anderes schon erlebt und verloren hat…
    Während sie so im Park spazieren geht, denkt sie an die Veränderungen, die ihr in dem neuen Leben bevorstehen. Und während sie Benjamin von einem hohen Stein springen lässt – »Mami noch mal, bitte noch mal!« –, fragt sie sich, wie das wohl sein wird, welche Rollen, privat und beruflich, als Frau und Künstlerin ihr hier noch möglich sein werden. Eine neue Sprache umgibt sie. Wir sprechen alle deutsch, und trotzdem verstehen wir uns nicht, so erlebt sie es. Was ganz selbstverständlich war, darauf kann sie sich nicht mehr verlassen. Wohin geht eine Künstlerin, in deren Kunst die eigene Muttersprache einen ganz selbstverständlichen Anteil hat? In dieser Landeshälfte, die so offensichtlich angloamerikanisch geprägt ist – wirkt die deutsche Sprache im Gesang da nicht eher störend? Und wird sie Mitstreiter finden, die ihr dabei helfen können, ihre Empfindungen in eine neue, hier passende Sprache zu übersetzen? Werden sich diese Empfindungen vielleicht selber verändern, und zwar so, dass sie sich das Neue auch selbst erst übersetzen muss? Und werden die Zuhörer ihr jemals noch so gefühlsmäßig folgen können, dass nicht alles immer auch erklärt werden muss? Werden sie zum Beispiel jemals an den richtigen Stellen lachen? An denen damals gelacht wurde?
    Benjamin ist jetzt müde. Die junge Frau setzt den Jungen wieder in den Kinderwagen und deckt ihn zu. Sie will noch ein bisschen durchs Viertel, eine Runde drehen, eh sie nach Hause geht. Die gleichen abgewohnten Gründerzeithäuser, Mietskasernen der Kaiserzeit, enge Höfe wie ein paar Kilometer weiter auf dem Prenzlauer Berg. Wo sie noch vor kurzer Zeit mit ihrer Band geprobt hat. Die gleiche Stadt, das gleiche Wetter – aber zwei Welten. Wie dunkel es nachts auf der anderen Mauerseite immer war, ist ihr erst bewusst geworden, als sie die blinkenden Lichter am Ku’damm nicht mehr los wurde. Und wie seltsam ratlos ihr Vermieter sie angeschaut hat, als sie sich über den Telefonanschluss in der Wohnung freute – fast unerreichbar in der anderen Halbstadt. Selbst sie als bekannte Sängerin hatte dort bis zuletzt kein eigenes Telefon. Ihr Mann musste für seine Geschäftstelefonate auf die Post, in die Zelle und wählen, in der Schlange warten oder andere Benutzer abwehren, hoffend, dass es bald klingelte und er zurückgerufen wurde.
    Hier im Westen würden viele das komisch finden. Und gerade haut jemand in einem der Telefonhäuschen, die hier im Freien

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