Knuddelmuddel
München geht gleich. Schönen Tag noch.“
„Ihnen auch“, sagte ich. „Und guten Flug.“
„Danke“, sagte der Mann.
Er nahm seinen Rucksack und verschwand wieder aus meinem Leben. Damit war er in meinem Leben nicht mehr als eine Anekdote, die man bei einem chinesischen Fondue erzählen könnte, wenn es in meinem Leben denn je wieder chinesisches Fondue geben würde.
Was aber wäre passiert, wenn ich in den ersten zehn Sekunden entschieden hätte, dass er als potentieller Partner in Frage käme? Wenn es zwischen uns eine spontane Chemie, ja vielleicht sogar Magie gegeben hätte? Würde ich dann womöglich in einem Monat wieder hier auf dem Flughafen stehen und nicht auf einen Flug aus Hamburg, sondern auf einen Flug von oder nach München warten? Würde ich meine künftigen Sommer in Jeans und Karohemd (Dirndl wäre wohl doch ein bisschen zu viel) auf der Alm verbringen und lila Kühe melken? Oder würde er seine Krachledernen ausziehen und zu mir in die Rua Ferreira Borges ziehen und mit mir im Café Covas Kaffee trinken?
Man sieht – das Leben ist voller Möglichkeiten. Es ist nur so schwer, sie zu erkennen. Und wahrzunehmen. Und sich zu entscheiden. Alleine hier auf dem Flughafen am Samstagnachmittag – wo wollten die Leute bloß alle hin, wo kamen sie her, was hatten sie vor, wie fühlten sie sich, es war ein Gewirr von Glück und Unglück, Erwartung und Freude, Enttäuschung und Frust, ein ständiges Kommen und Gehen und Abschiednehmen und Wiedersehen. Alles Fäden, die das Universum spann, um uns miteinander zu verbinden. Ein gigantisches, vielleicht galaktisches Spinnennetz mit Milliarden und Abermilliarden von Spinnen. Und was war das für ein Faden, den das Universum gerade gesponnen hatte, warum hatte das Universum eigentlich dafür gesorgt, dass mir auf dem Lissabonner Flughafen ein Vortrag über das Käsemachen auf bayrischen Almen gehalten wurde? Wo sollte denn da der Sinn drin sein? Und wo blieb eigentlich dieser Flug aus Hamburg, auf den ich wartete?
Ich stand auf und stellte mich in den Pulk vor der Anzeigentafel. Der Flug aus Madrid war soeben gelandet. Der Flug aus Lanzarote zehn Minuten verspätet. Der Flug aus Hamburg hatte immer noch keine Ankunftszeit. Immer noch delayed auf unbestimmte Zeit.
Und was, wenn Tom damals vor fast dreißig Jahren nicht nach Thailand geflogen wäre? Wenn ich meinen Mut zusammengenommen hätte und gesagt hätte: Bleib bei mir, bitte. Denn das war es doch, was ich in diesem Moment damals fühlte.
Immerhin hatten wir die Nacht zusammen verbracht.
Und was für eine.
Und völlig unerwarteterweise.
Es war kurz nach unserem Abi. Ich wohnte schon in Hamburg, Tom wollte um die Welt reisen. Planlos. Denn man kann die Idee, vielleicht in Neuseeland Äpfel zu pflücken oder Brombeeren zu ernten und einmal im Leben mit der transsibirischen Eisenbahn von Peking nach Moskau zu fahren, nicht wirklich als Planung bezeichnen. Tom hatte in einer Radiosendung gehört, dass die Tickets für die transsibirische Eisenbahn sehr günstig seien. Wenn man das Ticket in Peking kaufte. Er hatte bei mir übernachtet, sozusagen als Startpunkt seiner Reise. Bei mir übernachten und dann von Winterhude aus morgens zum Flughafen. Wir waren zusammen türkisch essen gegangen. Im Arkadas, dem türkischen Restaurant gleich an der Uni. Danach waren wir Arm in Arm an der Alster lang gelaufen, weil wir den letzten Bus verpasst hatten und ein Taxi uns unverhältnismäßig teuer erschien, und so liefen wir eine dreiviertel Stunde durch eine milde Sommernacht bis zu meiner Wohnung in Winterhude und dann waren wir zu faul gewesen, die Gästematratze vom Boden zu holen und den Schlafsack zu suchen. Ich hatte gesagt, weißt du was, schlaf einfach bei mir, das Bett ist schließlich breit genug. Und Tom hatte gesagt, warum nicht.
Und da war es dann plötzlich passiert. Wir lagen zusammen im Bett, und ich weiß garnicht, wer angefangen hat, aber darum geht es ja auch garnicht. Plötzlich berührten sich unsere Hände, dann küssten wir uns, und plötzlich spürte ich Toms Hände auf meiner Haut. Wie gut Tom roch. Wie fest sich sein Körper anfühlte.
Und morgens standen wir dann völlig übermüdet auf dem Hamburger Flughafen. Verwirrt und sprachlos. Und Tom flog nach Thailand und war wieder weg aus meinem Leben.
Ich setzte mich wieder in das Café und schlug die Süddeutsche wieder auf, blätterte ein bisschen und landete dann bei den Kontaktanzeigen. Alle Inserenten waren natürlich
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