Kobra
toten Hotelgastes aus Zimmer 330, Raphael Delacroix. Die Rezeptionistin stellte durch, aber in dem Zimmer antwortete niemand. Die Frauenstimme bestand darauf, dass sie es erneut probieren solle – die Angelegenheit sei wichtig, Herr Delacroix erwarte den Anruf. Daraufhin holte sie den Empfangschef. Er war drauf und dran zu erklären, dass es nicht üblich sei, die Gäste mitten in der Nacht zu wecken, hielt sich aber zurück und stellte abermals durch. Nein, Herr Delacroix nehme nicht ab. Solle man ihm bestellen, dass nach ihm gefragt worden sei? Nein. Die Frau bedankte sich nur, und der Hörer wurde aufgelegt.
Das war der Anfang.
Eine gewöhnliche Geschichte, die sich in einem Hotel Tag und Nacht zutrug und dem Empfangschef am allerwenigsten hätte merkwürdig vorkommen müssen.
Aber dieses Mal merkte er auf. Mit dieser Nummer war etwas. Zunächst fiel es ihm nicht ein, dann sah er im Computer für die Anrufe nach. Ja, bestätigte ihm Chloé, die Rezeptionistin, Herr Delacroix hatte gebeten, um sechs Uhr geweckt zu werden und ein Taxi für ihn zu bestellen.
Ein Gast, der einen Weckauftrag erteilt hatte, war doch offensichtlich in seinem Zimmer und hätte sich nach so langem Klingeln melden müssen. Der Empfangschef begann zu grübeln, es ließ ihn nicht mehr los und er rief den Etagenkellner vom Nachtdienst an, er solle mal hinauf gehen und klopfen. Es kam alles Mögliche vor, er wollte sicher sein, dass dem Gast nicht schlecht geworden war. Gegen halb eins berichtete ihm der Kellner, dass die Tür verschlossen sei und niemand auf das Klopfen und das beharrliche Telefonklingeln reagiere, das er von drinnen hören konnte. Beunruhigt meldete das der Empfangschef der Geschäftsleitung.
Daraufhin setzte sich jener Mechanismus in Bewegung, der für solche Fälle vorgesehen ist. Ein Mechanismus, der die Sekunden zählt und mit Sirenengeheul bei Rot über die Kreuzung fährt. Der Geschäftsleiter schloss auf, und da der Mann auf dem Bett noch Lebenszeichen von sich gab, riefen sie in der Klinik an. Gegen ein Uhr starb Delacroix in der Aufnahme des Krankenhauses, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.
Raphael Delacroix hat einige Fragen hinterlassen, die wir werden klären müssen. Und leider gehört eine jener zu denen, die mir gar nicht behagen. Nämlich die, dass selten jemand ein Taxi bestellt, wenn er sich umbringen will.
Doch die psychologischen Analysen später. Zuerst muss alles aufgenommen und das Zimmer in Sektoren eingeteilt werden, damit mir bei dieser ersten Besichtigung nichts entgeht. Was man jetzt versäumt, lässt sich hinterher nicht mehr aufholen und erschwert die gesamte Ermittlung.
Morgen sind die Spezialisten vom Institut hier, und in einem Aktenhefter, der jetzt in meiner Schreibtischschublade liegt, werden die Untersuchungsergebnisse gesammelt – die von der Forensik, der Spurensicherung, den Chemikern, der Gerichtsmedizin.
Steinchen eines Mosaiks, die ich ineinanderfügen muss. Aber das vollständige Bild ist hier zu sehen, und ich muss seine Konturen schon bei dieser ersten Besichtigung erkennen.
Es ist zwei Uhr nachts. Die Kamera surrt immer noch in Sophies Händen.
Im Korridor hat sich ein Polizist postiert.
Nur gut, dass die Männer von Bonnet kaum etwas verändert haben – dank unserer Leute. Sonst wäre unsere Aufgabe von vornherein kompliziert. Aber sie ist auch so nicht leicht. Sie ließe sich mit einer Theatervorstellung vergleichen, zu der man zu spät kommt: Auf der Bühne wird bereits gespielt, und man versucht zu rekonstruieren, was vorher war. Bloß, dass wir es hier statt mit handelnden Personen mit handelnden Gegenständen zu tun haben.
Einer unserer Hauptakteure ist die Spritze.
Da die Spezialisten von der Forensik noch nicht eingetroffen sind, betrachte ich sie nur. Eine gewöhnliche Rekordspritze, zehn Kubik, ein bisschen abgenutzt – offenbar hat sich Herr Delacroix ihrer schon lange bedient. Ihre Metallringe glänzen im Licht. Wie sie so mit der langen Nadel daliegt, kommt sie mir nicht wie eine Spritze, sondern eher wie ein giftiges Insekt vor.
Ein anderer Hauptakteur ist das Sakko auf dem Stuhl. Ein modisch elegantes Sakko aus weichem Tuch. Offensichtlich hat Herr Delacroix Wert auf sein Äußeres gelegt. Das bezeugt auch die Krawatte, die unter dem Sakko hervorragt: weiche, gedeckte Töne, passend zur Kleidung.
Es hilft nichts, ich muss mich mit dem Sakko befassen. Ich streife die Handschuhe über und beginne den Tascheninhalt
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