Kobra
mir wider gegen den Strich. Warum soll das Hotel nicht für unsere Landsleute da sein?
„Dann?“
„Das sind die geraden Zahlen. Gegenüber, ganz hinten, Herrn Delacroix genau gegenüber, wohnt eine deutsche Familie, Mann, Frau und ein Kind von fünf, sechs Jahren. Wie heißen sie gleich ...“
Jean Legrand schaut wieder in den Computer.
„Schultz. Axel Schultz aus Deutschland. Sie sind mit ihrem Wagen da, wollen wohl irgendwohin zum Film-Festival in Cannes. Neben ihnen, in 327, ist Herr McBail.“
„Ein Engländer?“, frage ich. Sein Name klingt englisch.
„Schweizer. Er ist seit zwei Tagen da. Morgen reist er ab.“
„Morgen oder heute?“, präzisiere ich.
„Heute, heute“, besinnt er sich. „Er hat sich schon nach dem Expresszug um elf Uhr dreißig erkundigt. Heute reist er nach Barcelona ab. Ja, und in 325 ist Ingenieur Neumann, ein Österreicher. Das wär’s.“
Ich hole mein Notizblock aus der Tasche und zeichne die Zimmerkästchen ab. Darunter schreibe ich die Namen. Für alle Fälle.
„Sehen Sie, Herr Legrand“, sage ich, „ich habe eine Bitte. Es sind schon eine ganze Menge, aber ... dass Sie nach Ihrer Ablösung noch ein bisschen bleiben und mir bei ein paar Dingen helfen.“
In Legrands Augen leuchtet Stolz auf.
Selbstverständlich werde er bleiben. Womit könne er sich nützlich machen?
„Ich wollte Sie bitten, die Gäste dieser Zimmer möglichst bald davon zu unterrichten, dass ich mit jeden von ihnen sprechen möchte. Ein paar Minuten, nicht länger. Sie verabreden für mich die Begegnungen. Für den Morgen oder den Nachmittag hier im Hotel. Wann es den Leuten passt. Aber ich muss mit allen sprechen.“
„Selbstverständlich Dr. Bouché.“
„Am besten zuerst mit Herrn ...“, ich sehe in mein Notizblock, „McBail, weil er abreist, wie Sie sagen. Danach mit den anderen. Klären Sie, in welcher Sprache. Am liebsten, wenn möglich, englisch; dass sie französisch können, glaube ich nicht. Und in ein, zwei Stunden schicke ich Ihnen meine Assistentin Sophie Durand. Mit ihr können Sie sich beraten, wenn es etwas gibt. Ach ja, ich brauche die Videoaufzeichnung der Etage von vergangener Nacht. Und jetzt möchte ich Ihre Rezeptionistin Chloé Leroy sehen, von der Sie gesprochen haben.“
„Soll sie herkommen?“, fragt Jean Legrand. „Sie ruht sich ein wenig im Büro aus, das arme Ding ist mit den Nerven völlig runter durch die Sache ...“ Er zeigt auf die Tür hinter der Theke.
„Nein, besser ich gehe zu ihr.“
Ich hatte ein junges Mädchen zu sehen erwartet, doch auf dem schmalen Sofa liegt eine Frau über vierzig, mit blondem Haar – offensichtlich ist da etwas nachgeholfen worden -, eine Frau, zu der die Verkleinerungsform des Namens überhaupt nicht passt.
Legrand fühlt sich verpflichtet, mich vorzustellen.
„Chloé, der Dr. Bouché ist von der Police Nationale.“
Kann sein, ich entspreche ebenso wenig ihren Vorstellungen. Sicherlich hat sie einen wesentlich jüngeren, schneidigen Mann erwartet, mit Bassstimme. Doch ich bin in ihrem Alter, trage keinen Kittel, habe keinen Bass, und mein Haar ist, gelinde gesagt, an den Schläfen schon recht grau.
Ich stelle mich vor, Chloé Leroy rappelt sich hoch und bietet mir den Stuhl hinter dem Schreibtisch an.
„Wie soll ich sagen, Dr. Bouché, eine Frauenstimme.“
„Eine junge Frau, oder … was meinen Sie?“
Chloé Leroy überlegt. „Kann sein ... nicht ganz jung, aber Sie wissen ja, an der Stimme ...“
„Ich weiß. Ich möchte nur Ihren Eindruck hören, nichts weiter. Was hat sie gesagt?“
„Sie sagte: Geben Sie mir bitte Zimmer 330.“
„Und weiter?“
„Dann habe ich durchgestellt. Nachdem nicht abgehoben wurde, sagte ich zu ihr: Dort antwortet niemand, aber sie beharrte: Bitte, es ist sehr wichtig, Herr Delacroix erwartet das Gespräch.“
„Hat sie das gesagt: Herr Delacroix?“
„Ja, ich erinnere mich gut, dass sie das gesagt hat. Ich habe noch einmal durchgestellt und wieder gewartet. Dann habe ich gefragt, ob ich etwas ausrichten soll ... wenn es so wichtig ist, dass sie mitten in der Nacht anruft, aber das habe ich natürlich nicht gesagt. Das war alles.“
„Ist Ihnen an der Stimme etwas aufgefallen?“
„Sie sprach ein bisschen ... ein bisschen schleppend.“
Das ist interessant. Langsam kann man aus verschiedenen Gründen sprechen. Temperament, Unsicherheit, Unkenntnis der Sprache, die Absicht, denjenigen irrezuführen, mit
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