Kochwut
Zeit sowieso seine Orientierung abhanden gekommen, egal worum es ging. Nach einem Blick auf seine Einkaufsliste für das heutige Essen hatte Astrid die Stirn gerunzelt und hatte etwas gallig gefragt, ob er seinen Wunsch, ein paar Kilos zu verlieren, schon wieder aufgegeben habe. Er hatte nicht darauf geantwortet, und Astrid hatte wohl auch keine Antwort erwartet. Aber die Frage hatte ihm, zumindest für eine Weile, die Vorfreude auf den heutigen Abend verdorben.
»Georg, kann ich dich kurz sprechen?«
»So ganz ideal ist das im Moment nicht. Hat das nicht Zeit, bis das Dessert fertig ist?«
»Ich wollte dich allein sprechen, und es dauert auch nicht lange.«
»Was gibt’s?«
Besonders interessiert war Georg Angermüller nicht an einem Vieraugengespräch mit Carola.
»Ich brauche deine Hilfe als Polizist. Hier.«
Carola legte drei Briefumschläge auf den Küchentisch.
»Was ist das?«
»Schau dir bitte an, was da drin ist!«
Angermüller wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und nahm die Pfanne vom Feuer. Dann öffnete er den ersten Umschlag und holte ein Kochrezept heraus. Es handelte sich um eine Seite aus einem edlen Hochglanzkochbuch, das man nur unter Folie in der Küche benutzen mag, um es vor Fettspritzern und sonstigen Kochspuren zu schützen, und das sich Angermüller schon deshalb niemals zugelegt hätte.
»Das ist ein Rezept für Canard à l’Orange. Was ist damit?«
»Da!«
Carola wirkte ausgesprochen nervös. Ihr Zeigefinger mit dem tiefrot lackierten Nagel deutete auf die ästhetisch sehr ansprechende Fotografie der Ente mit Orangen. Auf den ersten Blick konnte Angermüller nichts Besonderes daran feststellen. Doch dann erkannte er, dass jemand mit feinen Strichen Carolas Konterfei der Ente als Kopf angefügt und die Konturen eines fülligen Körpers auf die knusprig braune Geflügelhaut gezeichnet hatte. Und dann sah er, dass im Text des Rezeptes mit einem Marker Worte angestrichen waren wie: zartes, roséfarbenes Fleisch, Brust, Schenkel und die Tranchieranleitung. Darunter dem Text hinzugefügt der Satz: ›Das wird ein Fest!‹ Er sah Carola fragend an, die einerseits peinlich berührt, andererseits verängstigt schien.
»Hier, sieh dir auch die beiden noch an!«
Und sie schob ihm die Umschläge über den Tisch. Auch sie bargen jeweils ein Kochrezept und entstammten, der Aufmachung nach zu urteilen, offensichtlich dem gleichen Hochglanzkochbuch. An den silbrig glänzenden Leib eines Loup de Mer hatte der Zeichner einen üppigen weiblichen Oberkörper gesetzt, sodass das Ganze an eine Meerjungfrau erinnerte. Das Gesicht und die Haare waren wiederum Carola nicht unähnlich. Begriffe wie festes, weißes Fleisch, delikater Geschmack und im Ganzen zuzubereiten waren markiert und daneben stand: ›Ins Netz gegangen!‹. Im dritten Umschlag ging es um eine Lammkeule, das Foto war in gleicher Weise wie die beiden anderen zeichnerisch bearbeitet, und die handschriftliche Anmerkung umfasste hier nur ein Wort: ›Fleischeslust!‹.
Etwas ratlos sah Angermüller zu Carola.
»Ja und? Was erwartest du von mir?«
»Das fragst du noch? Findest du das etwa völlig normal, wenn einem anonym solche Briefe geschrieben werden?«
Georg schwieg betreten, als er ihre Aufgeregtheit bemerkte.
»Erst einmal möchte ich, dass du diesen Schmierfink verfolgst …«
»Carola, du weißt, ich bin bei der Mordkommission, und so ganz fällt das nicht in mein Ressort, und ehrlich gesagt«, Angermüller hüstelte, »also eine konkrete Bedrohung kann ich in diesen Machwerken noch nicht erkennen.«
»Sag mal, hast du noch nichts von Stalking gehört?«, Carolas Gesicht leuchtete plötzlich so dunkelrot wie ihre Kette, und ihre Stimme kippte fast vor Empörung. »Und außerdem, was soll das sonst sein, wenn keine Bedrohung? Fühlst du dich erst zuständig, wenn ich im Herd dieses Irren gelandet bin?«
Diese Vorstellung erschien Angermüller ziemlich surreal.
»Carola, bitte beruhige dich. Natürlich kann ich mir vorstellen, dass das ein dummes Gefühl für dich ist. Das ist eine sehr unschöne Art der Belästigung …«, versuchte er zu beschwichtigen. »Könnte es vielleicht ein enttäuschter Verehrer sein?«
»Unschöne Art der Belästigung! Enttäuschter Verehrer! Quatsch! Denkst du vielleicht, ich bin nur hysterisch?«
Angermüller schüttelte demonstrativ seinen Kopf. Offensichtlich nahm das Gespräch nicht den Verlauf, den Carola sich vorgestellt hatte. Ihre anfängliche Nervosität war
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