Königin der Engel
Sie hatten bereits Spuren von sämtlichen Opfern und von Emanuel Goldsmith gefunden; und es gab Spuren von vier weiteren Besuchern, die keine sechsunddreißig Stunden alt waren.
Mary nahm den traurigen Anblick starrer, blutbesudelter junger Leichen in sich auf und sagte ihnen nacheinander ihr professionelles Adieu.
Die Namen, in der Reihenfolge des Todes:
Augustin Rettig
Neona White
Betty-Ann Albigoni
Ernly Jeeger
Thomas Finch
und drei nicht Identifizierte. Rettigs Mutter war Generaldirektorin von Nord-Comb Eins. Whites Vater war der Besitzer von Workers Inc., der größten Zeitarbeitsagentur an der Pazifikküste, die mehr als dreiundzwanzig Millionen therapierte und natürliche Bürobreitärsche vertrat – die Crème de la Crème. In Marys Jugend – damals vor der Transformation – war Workers Inc. an sie herangetreten, aber sie hatte abgelehnt. Westküsten-PDs wurden von Human Expedition Ltd. vermittelt, und Mary hatte schon in ihrer frühen Jugend gewußt, was sie wollte.
Betty-Ann Albigoni war die Tochter eines Verlegers – Bücher, hieß es in der Akte, mehr Literatur als Videos; Goldsmiths Hauptverleger in englischer Sprache. Thomas Finchs Onkel war Berater von High Reach, der größten Handelsfirma für Suborbitalmaschinen. Ernly Jeeger war Emanuel Goldsmiths Patensohn, selbst ein vielversprechender Poet, auch als Eloi-Sympathisant und für in rechtlichen Grauzonen angesiedelte Aktivitäten auf dem Gebiet von Wholelife-Vids bekannt.
Eine mattrote Lampe, die auf ihrer Schulter angebracht war, zeigte immer dorthin, wohin sie den Blick richtete. Bläuliche Kälte. Der Analysator fuhr leise wie ein beinloses Insekt über sie hinweg und in einen anderen Raum.
Finch, das letzte Opfer, lag wie ein zerbrochenes Kreuz auf dem Rücken, Gesicht zerschlitzt Kehle schräg vom Unterkiefer bis zum gegenüberliegenden Schlüsselbein gezackt durchgeschnitten offene Augen weiß bereift.
Es war Quatsch, daß PDs bei einem Verbrechen nichts empfanden. Jede gefrorene klaffende Wunde, jeder angsterfüllte tote Blick weißer Augen und jede plötzliche Totengrimasse brannte sich in Marys Gehirn und verschaffte ihr eine Gänsehaut. Sie waren die Motivation dafür, daß sie ihr Bestes geben würde.
Sie würde den Mörder finden und dafür sorgen, daß er zu einer Volltherapie verurteilt wurde, zu einer Rekonstruktion, wenn es verlangt wurde – und das PD würde es verlangen. Falls Goldsmith der Mörder war, was jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vermuten stand, auch gut; sie und das PD würden überall auf der Welt in die LitVids kommen. Aber wenn die Sache zu hohe Wogen schlug, würde sie sie glätten.
Offiziell war sie zu einer Kontextsuche zurückgekommen, um einen Blick in Goldsmiths Unterlagen zu werfen. In dem Raum, der Goldsmith als Arbeitszimmer diente, lagen keine Leichen, und er war bereits analysiert worden. Sie konnte hineingehen und ihre Durchsuchung machen. Vollmachten des PD, der städtischen Behörde und des Bundesamtes erlaubten ihr gemäß der Raphkind-Zusätze, die von Präsident Yales vor Jahresfrist komplett neu ernanntem Gerichtshof noch nicht widerrufen worden waren, die meisten Aspekte von Goldsmiths Leben zu erforschen. Privat war sie zwar mit den Raphkind-Zusätzen nicht einverstanden, aber sie zögerte nicht im geringsten, sie sich zunutze zu machen. Was man hier nicht fand, entdeckte man vielleicht bei der Bürgeraufsicht – eine Reise, die sie hoffentlich nicht zu unternehmen brauchte.
Goldsmith war kein reinlicher Mensch. Sie neigte den Kopf in dem aufgeblähten Schlauchhelm und ließ den Blick über seinen Schreibtisch schweifen. Zweckmäßige Tafel- und Tastaturmodelle, keine Goldbeschichtung, kein Holzgehäuse. Kalte Cracker und ein halbes Glas gefrorener Wein. Brösel. Stifte – Filzschreiber, und wie hießen die anderen gleich noch? Kugelschreiber. Sie fragte sich, woher er die hatte. Eine Hand oder ein Arm hatte über den Tisch gewischt und einen kleinen Stapel Printouts – nicht löschbare Zyklika, eigentlich längst aus der Mode, aber richtiges, mit der Hand beschriebenes Papier – auf der schwarzen Marmorfläche verteilt. Würfel marschierten in Zweierreihen zum Rand des Schreibtischs und lagen daneben auf dem Fußboden. Geistigen Auges sah sie eine Hand, die jeweils zwei aus einer Schachtel nahm – ein leerer Würfelordner lag ganz in der Nähe – und sie paarweise auf den Schreibtisch packte, dann ziellos über den Rand hinwegging und vier fallen ließ. Die
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