Königin der Engel
Wochen nicht mehr so gut gegessen, seit ihm seine Ersparnisse ausgegangen waren. Er lehnte es ab, im Schatten stempeln zu gehen. Sein Antrag auf Sozialhilfe seitens der Stadt war noch nicht bearbeitet worden, vielleicht aufgrund von offizieller Mißbilligung oder von Unfähigkeit; der Beamtenapparat war die letzte gutbezahlte Zuflucht für die Untherapierten. In der kühlen, dunklen Nische mit den zerknautschten Samtpolstern, eine Reservierungskarte in der einen und einen Whisky Sour in der anderen Hand, empfand er nun weniger Verachtung für die Zivilisation und fühlte sich der menschlichen Rasse näher. Auf der Rückseite der Karte stand eine Notiz: ›Essen Sie ruhig schon. Wir kommen eine halbe Stunde später. Verzeihung. Lascal.‹
Sie kamen genau eine halbe Stunde später. Martin zweifelte nicht daran, daß er seine Wohltäter vor sich hatte, als ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit welligem grauem Haar und ein kleiner Bursche mit einer Adlernase und einer gemäßigten Pompadourfrisur den Salon betraten. Sie erkannten ihn entweder vom Tisch her oder weil sie wußten, wie er aussah.
»Mr. Albigoni, das ist Martin Burke«, stellte ihn der adlernasige Lascal vor. Sie schüttelten sich die Hände und tauschten ein paar Belanglosigkeiten über die Einrichtung und das Wetter aus. Albigoni war mit dem Herzen und dem Verstand eindeutig woanders. Er machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Lascal war entweder wirklich gut gelaunt, oder er konnte seine Gefühle gut verbergen.
»Ich habe gerade gut gegessen«, sagte Martin. »Nun mache ich mir Sorgen, daß ich Ihnen vielleicht nicht helfen kann.«
»Keine Angst«, sagte Lascal.
Albigoni sah ihn direkt an, sagte jedoch nichts. Sein langer grauer Schnurrbart war eine negative Hyperbel über festen, blassen Lippen. Lascal gab einem Kellner die Speisekarten und bestellte für sie beide. Dann breitete er vor Martin die Hände aus: Wir haben nichts zu verbergen.
»Kennen Sie Emanuel Goldsmith?« fragte er Martin.
»Ich habe von ihm gehört«, antwortete Martin. »Falls wir von demselben Mann reden.«
»Tun wir. Es geht um den Dichter. Er hat vor drei Tagen Mr. Albigonis Tochter ermordet.«
Martin nickte, als ob er soeben von einer kleinen Veruntreuung im Verlagswesen unterrichtet worden wäre. Albigoni starrte ihn weiterhin an, ohne ihn zu sehen.
»Er ist auf der Flucht – und sehr krank, in seelischer Hinsicht«, fuhr Lascal fort. »Wären Sie bereit, ihm zu helfen?«
»Wie?« Martin vermied es, einen Schluck zu trinken, obwohl er das Glas befingerte.
»Mr. Albigoni war – ist – Mr. Goldsmiths Verleger und sein Freund. Er hegt keinen Groll gegen ihn.« Diese vorbereitete Erklärung ging Lascal nicht so leicht über die Lippen.
Martin unterdrückte den Impuls, eine Augenbraue hochzuziehen. Der Lunch wurde allmählich ziemlich surreal.
»Da Mr. Goldsmith jetzt geistig sehr verwirrt, vielleicht sogar wahnsinnig ist, möchten wir, daß Sie ihm helfen. Wir möchten die Wurzeln seiner Krankheit finden.«
Martin schüttelte den Kopf über die veralteten Ausdrücke. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nichts mehr mit dem IPR zu tun habe. Man hat mir erklärt…«
Albigonis starrer Blick wurde auf einmal lebendig. Er sah Martin an. Lascal warf einen Blick auf seinen Boss und drehte sich dann mit Kopf und Schultern zu Martin, als ob er eine Wand errichten wollte, um Albigoni vor äußeren Einwirkungen zu schützen. »Wir können dafür sorgen, daß Sie dorthin zurück können und daß die Einrichtungen wieder geöffnet werden.«
»Ich will da nicht wieder arbeiten. Ich bin rausgeworfen worden, weil ich eine Arbeit gemacht habe, die absolut vernünftig und wichtig war.«
»Aber Sie sind dabei nicht sehr vernünftig zu Werke gegangen«, sagte Albigoni.
»Ich weiß nicht, was vernünftig ist, wenn sich Politik mit Wissenschaft vermischt. Sie etwa?«
Albigoni schüttelte langsam den Kopf; er war wieder in seine Grübelei versunken und hörte kaum zu.
»Goldsmith muß untersucht werden«, sagte Lascal.
»Er ist nicht in Haft, nehme ich an.«
»Nein.« Ein Zögern. »Noch nicht. Wir müssen wissen, was ihn zum Mörder gemacht hat.«
»Der Mann braucht die gesetzlich vorgeschriebene Therapie, aber keine Untersuchung.«
»Sein Problem ist durch Therapie nicht erfaßbar«, sagte Albigoni. Seine Kiefer verkrampften sich, als er sie zwischen den Worten zusammenpreßte. »Ein Therapeut würde ihn heilen oder ihn verändern, aber darum geht es mir nicht.
Weitere Kostenlose Bücher