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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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einer der schönsten Momente seines Lebens. Die Schwangerschaftstabelle meiner Mutter war von ihm allerdings noch sorgfältig mit Bleistift und Lineal angefertigt worden. Sie umfasste insgesamt 19 Zeilen. In Zeile 19 war links zu lesen: Wehen in Abständen von weniger als 15 Minuten. Und rechts daneben: Es geht los. Ab ins Krankenhaus.
    Als meine Eltern in der Klinik von Hamburg-Barmbek eintrafen, setzte mein Vater seine schnaufende Gattin auf einen Stuhl, ging zum Aufnahmeschalter und überreichte der diensthabenden Schwester ein kleines Klarsichtmäppchen, das alles enthielt, was für das Krankenhaus auch nur im Entferntesten von Interesse sein konnte: die Unterlagen der Krankenkasse, Mamas letzten Untersuchungsbefund vom Arzt, ein kurze Liste ihrer bekannten Allergien (Südfrüchte und Jasmin) und einen Zettel voller Telefonnummern, unter denen man ihn im Falle eines hoffentlich niemals eintretenden Unglücks erreichen könne; darauf stand die Privatnummer meiner Eltern, die Nummer der Versicherungsagentur, in der mein Vater arbeitete und sicherheitshalber auch noch die Nummer seiner Eltern, meiner zukünftigen Großeltern, die zwar in Bad Kissingen lebten, aber dennoch, sollte er nicht erreichbar sein, wichtige Entscheidungen treffen könnten.
    »Ich liebe dich«, sagte er dann zu meiner Mutter, die sich schwankend erhob, gab ihr einen Kuss und nahm dann auf ebenjenem Stuhl Platz, auf dem kurz zuvor noch seine Frau gesessen hatte. Meine Mutter wurde von einer Krankenschwester in den Kreißsaal gebracht, der damals tatsächlich noch ein Saal war. Drei Frauen brüllten sich darin zeitgleich die Seele aus dem Leib, während sie ihre Kinder herauspressten. Einzig dünne Vorhänge zwischen den Betten simulierten so etwas wie eine Privatsphäre. Männer waren im Kreißsaal nicht erwünscht. Außer Ärzten natürlich.
    Mein Vater saß also im Krankenhausflur auf einem Stuhl und schaute auf seine Armbanduhr. Danach holte er ein dickes Buch aus seiner Aktentasche, die er wohlweislich mitgenommen hatte, seufzte einmal und begann zu lesen. Die durchschnittliche Zeitspanne von der Einlieferung ins Krankenhaus bis zur tatsächlichen Entbindung lag bei Erstgebärenden bei 6,4 Stunden. Das hatte er zuvor in Erfahrung gebracht.
    *
    »Das darf doch nicht wahr sein!«, brüllte meine Mutter, nachdem sie fast fünf Minuten lang an der Hindenburgstraße hin und her gerannt war, mit den Armen gewedelt, hysterisch gekreischt und verzweifelt versucht hatte, eines der vorbeibrausenden Autos anzuhalten. Warum stoppte niemand? Was waren das für Menschen, die eine hochschwangere und verzweifelte Frau einfach so ihrem Schicksal überließen? Doch dann hatte meine Mutter plötzlich die Eingebung, dass die Autofahrer sich ihrer dramatischen Situation vielleicht gar nicht bewusst waren. Die hatten keine Ahnung, dass sie kurz davor war, ein Kind zu bekommen. Vielleicht dachten diese Leute, sie wäre bloß dick, nicht im neunten Monat, und obendrein ein bisschen gaga. Also raffte Mama kurz entschlossen ihr dünnes Batikkleid und hob es hoch, so dass die Welt ihren nackten, monströs runden und hoffentlich alles erklärenden Bauch sehen konnte, in dem ich gerade nach Herzenslust randalierte. Dass die Autofahrer unterhalb des Bauches ihren geräumigen Frotteeslip sahen, kümmerte sie vermutlich nicht. Ich bezweifle, dass diese exhibitionistische Aktion sie weniger verrückt erscheinen ließ.
    Als sie so dastand, die Unterseite des Kleides vor ihrem Gesicht und Wildfremden ihren Berg von Bauch präsentierend, bescherte ich ihr eine erneute, energische Wehe. Mama rollte mit den Augen und kippte um wie ein gefällter Baum. Ein Taxifahrer, der das beobachtete, bremste nun tatsächlich ab, scherte nach rechts aus und kam mit seinem Wagen auf dem Gehweg zum Stehen. Er sprang aus dem Auto und rannte auf meine am Boden liegende Walfischmutter zu, die ihn mit den wenig freundlichen Worten begrüßte: »Das wurde ja auch Zeit.«
    Der Taxifahrer war ein kräftiger Mann und gab sein Bestes, um meine Mutter anzuheben. Doch erst als noch zwei weitere Autofahrer anhielten und dem ächzenden Taxifahrer zu Hilfe eilten, war es möglich, Moby Mama zu dessen Auto zu schaffen. Als meine Mutter sah, um was für eine Art von Wagen es sich handelte, keuchte sie entschuldigend: »Oh, ein Taxi. Das tut mir aber leid. Ich habe gar kein Geld dabei.«
    »Das ist gerade das geringste Problem«, keuchte der Fahrer angestrengt. Die drei Männer wuchteten meine Mutter auf den

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