Septimus Heap 02 - Flyte
Ödlande – Schaflande
Ödlande – Schaflande
Im Jahr zuvor:
in der Nacht
nach dem Lehrlingsessen
E s ist Nacht in den Marram-Marschen. Der Vollmond scheint auf das schwarze Wasser und leuchtet den Nachtkreaturen. In der Luft liegt eine Stille, die hin und wieder vom Blubbern und Glucksen des Wabberschlamms unterbrochen wird, denn die Geschöpfe, die in ihm leben, eilen zu einem Festschmaus. Ein großes Schiff ist mit seiner gesamten Besatzung im Schlamm versunken, und die Kreaturen sind hungrig aber sie werden mit den Braunlingen um ihren Anteil kämpfen müssen. Von Zeit zu Zeit trägt eine Gasblase Teile des Wracks an die Oberfläche, und große, mit schwarzem Teer gestrichene Planken und Spieren treiben auf dem Schlamm.
Menschen sollten des Nachts besser nicht durch die Marram-Marschen reisen, und doch naht von weitem ein Mann in einem kleinen Kanu. Seine blonden Locken hängen in der feuchten Nachtluft schlaff herab, und seine grünen Augen starren zornig in die Dunkelheit. Er brummt ärgerlich vor sich hin und spielt in Gedanken den heftigen Streit durch, den er am Abend gehabt hat. Aber was kümmert ihn das noch? Er ist ohnehin auf dem Weg in ein neues Leben. Bald wird man seine Talente zu schätzen wissen und nicht mehr zugunsten eines dahergelaufenen Emporkömmlings verschmähen.
Von dem versunkenen Schiff ragt nur noch ein einzelner Mast aus dem Schlamm, und an seiner Spitze hängt schlaff eine zerfetzte Flagge mit drei schwarzen Sternen in Reihe. Der Kanufahrer steuert sein Boot direkt auf den Mast zu. Er schaudert, aber nicht vor Kälte. Was ihn schaudern macht, ist die Angst, die hier die Luft erfüllt, und die Vorstellung, dass unter ihm das Schiffswrack liegt, sauber abgenagt von den Braunlingen. Jetzt zwingen ihn die Trümmer, langsamer zu fahren. Er paddelt noch einige Meter, dann kommt das Kanu vollends zum Stehen. Er späht in die brackige Brühe. Zunächst kann er nichts erkennen, aber dann sieht er etwas unter sich ... schneeweiß im Mondlicht. Es bewegt sich, steigt aus der Tiefe zu ihm empor, durchbricht die Oberfläche und bespritzt ihn mit schwarzem Schlamm – ein blank genagtes Gerippe.
Der Kanufahrer zittert vor Angst und Aufregung, aber er lässt zu, dass das Gerippe an Bord klettert, hinter ihm Platz nimmt und seine spitzen Knie in seinen Rücken bohrt. Denn die Ringe, die noch an den Knochenfingern stecken, verraten, dass der Kanufahrer gefunden hat, was er sucht – das Skelett DomDaniels persönlich, jenes Schwarzkünstlers, der bereits zweimal Außergewöhnlicher Zauberer war und seines Erachtens alle anderen Magier, die er bisher kennen gelernt hat, in den Schatten stellt. Besonders die eine Zauberin, mit der er am Abend an einem Lehrlingsessen hat teilnehmen müssen.
Der Kanufahrer schlägt dem Gerippe einen Pakt vor: Wenn es ihn zu seinem Lehrling macht, will er alles in seinen Kräften Stehende tun, um es wieder ins Leben zu holen und ihm zu seinem rechtmäßigen Platz im Zaubererturm zu verhelfen.
Mit einem Nicken seines Totenkopfs stimmt das Gerippe dem Vorschlag zu.
Der Kanufahrer greift wieder zum Paddel, und das Gerippe weist ihm den Weg, indem es ihm ungeduldig mit dem Knochenzeigefinger in den Rücken piekt. Am Rand der Marschen angekommen, klettert das Gerippe aus dem Boot und führt den großen blonden Jüngling durch eine trostlose Landschaft zu dem düstersten Ort, an dem er jemals gewesen ist. Der Jüngling folgt dem klappernden Gerippe, denkt kurz daran, was er hinter sich lässt, aber nur kurz. Denn jetzt beginnt für ihn ein neues Leben. Er wird es allen zeigen – und dann wird es ihnen leid tun.
Besonders, wenn er eines Tages Außergewöhnlicher Zauberer wird.
* 1 *
1. Spinnen
S e ptimus Heap schnippte sechs Spinnen in ein Einmachglas, schraubte den Deckel fest zu und stellte das Glas vor die Tür. Dann schnappte er sich wieder den Besen und fegte weiter die Bibliothek in der Pyramide aus.
In der Bibliothek war es eng und duster. Nur ein paar dicke Kerzen spendeten zischend und brutzelnd etwas Licht, und es roch seltsam nach einer Mischung aus Weihrauch, modrigem Papier und schimmligem Leder. Septimus liebte die Bibliothek. Sie war ein magischer Ort und thronte ganz oben auf dem Zaubererturm, versteckt im Innern der goldenen Pyramide, die den Turm bekrönte. Draußen glänzte das getriebene Gold der Pyramide hell in der Morgensonne.
Als Septimus mit dem Fegen fertig war, arbeitete er sich fröhlich summend an den Regalen entlang und stellte
Weitere Kostenlose Bücher