Königskinder
sortiert, neben dem sich Bücher mit geheimnisvollen Schriftzeichen türmten. Und als wäre das alles nicht schon verwirrend genug, hingen vor, neben oder über diesem Chaos auch noch ein aufgeschlagener bunter Fächer und ein roter Lampion.
»Ein Hippie-Kostüm«, murmelte mein Vater. »Deine Mutter hat aber auch immer Ideen …«
»Was ist ein Hippie?«, fragte ich.
»Das sind Leute, die sich nicht an Regeln halten«, antwortete Papa.
Ich verzog das Gesicht. Mit Hippies zu spielen stellte ich mir total doof vor: Die würden schummeln und nichts würde klappen.
Als mein Vater die Tür öffnete, bimmelten viele kleine Glöckchen, die an einer langen Kette hingen. Uns schlug ein unglaublicher Geruch entgegen, der verführerisch schön und bedrohend intensiv zugleich war; viele Jahre später würde ich herausfinden, dass es der Duft von Amber-Räucherstäbchen war. Mit nur einer minimalen Zeitverzögerung folgte dem Glöckchengeläut ein ohrenbetäubender Schrei! Irgendetwas schrie so laut und anhaltend, dass ich mir entsetzt die Ohren zuhielt. Es klang, als würde ein Tier geschlachtet. Ich sah einen riesigen Frauenhintern in einem bunten Wollrock. Die Frau, der dieses monumentale Hinterteil gehörte, kniete auf dem Fußboden, umgeben von unzähligen kleinen, bunt schimmernden Perlen, die überall herumlagen oder kullerten, und hielt etwas fest, was ich nicht erkennen konnte. Das schlachtfertige Tier wahrscheinlich. Ich verstand nicht, was ich da sah, aber ich fand es zutiefst schockierend – und so faszinierend, dass ich wie gebannt einen Schritt in den Raum hinein machte. Mein Vater jedoch, der mit missbilligendem Gesichtsausdruck im Türrahmen verharrte, erfasste die Situation schnell. Er fragte die Frau, die immer noch mit dem mir unsichtbaren Wesen rang, kühl: »Ist alles in Ordnung?«
Die Besitzerin des überdimensionalen Hinterns rief etwas, was ich nur halb verstand. Irgendetwas mit »Trotzphase« und »Samsambali«. Damit war wahrscheinlich das Tier gemeint, das sich seinem Schicksal nicht kampflos ergeben wollte. Die Frau mit dem monströsen Hintern zähmte gerade ein Samsambali – oder machte Frikassee daraus.
Mein Vater sagte: »Dann komme ich später noch mal wieder«, nahm meine Hand und zog mich aus dem Laden. Ich war zutiefst erleichtert, dieses schaurige Geschäft verlassen zu dürfen, und gleichzeitig ein bisschen enttäuscht. So etwas Merkwürdiges hatte ich noch nie erlebt. Meine Eltern gaben sich stets große Mühe, mich von Kuriositäten, Normabweichungen und Überraschungen aller Art fernzuhalten.
Als wir wieder draußen auf dem Gehweg standen, sagte mein Vater: »Das, mein Junge, waren Hippies.«
Zwei Straßen weiter gab es einen Schuhladen, in dem wir um vierzig Prozent heruntergesetzte Halbschuhe für mich erstanden. Auf dem Rückweg zum Auto gingen wir schnurgerade am Traumwolke -Laden vorbei. »Papa, was ist denn jetzt mit dem Hippie-Kostüm?«, wollte ich wissen. Ein Teil von mir brannte darauf, den obskuren Laden erneut zu betreten und womöglich das Samsambali-Rätsel zu lösen.
»Deine Mama wird wieder als Stewardess zum Fasching gehen«, sagte jedoch mein Vater, als er mir die Autotür aufhielt. Sein Gesichtsausdruck besagte eindeutig, dass er nicht im Traum daran dachte, dieses Geschäft noch einmal zu betreten.
»Das scheint mir«, sagte ich nach kurzem Nachdenken, »der naheliegende Gedanke zu sein. Das Kostüm hat Mama schon im Schrank hängen, richtig? Dann macht es doch keinen Sinn, etwas Neues zu kaufen. Die Mama wächst ja nicht mehr.« Es hört sich merkwürdig an – aber genau das habe ich damals gesagt, inklusive dem Wörtchen naheliegend . Mein Vater verwuschelte mir liebevoll die Haare, und auf dem Weg nach Hause durfte ich ihm eine Rechenaufgabe stellen.
Ich komme mir ein bisschen seltsam vor, während ich all dies aufschreibe. Wie ich Ereignisse, Farben, Formen, Bilder und Gefühle rekonstruiere, die fünfunddreißig Jahre alt sind. Wie ich in meinen frühesten Kindheitserinnerungen krame und versuche, mir die längst vergangenen siebziger Jahre wieder vor Augen zu führen. Diese seltsame Dekade, in der Männer Schlaghosen trugen und Hemden, die genauso gemustert waren wie die Tapeten in ihrem Wohnzimmer.
Wahrscheinlich wird niemand außer mir je lesen, was ich hier schreibe – und doch werde ich mich bemühen, alles so akkurat wie möglich aufzuarbeiten. So bin ich nun mal: präzise und korrekt.
Ich schreibe mein Leben auf, weil ich es in
Weitere Kostenlose Bücher