Körper-Haft (German Edition)
breit!
3648
Plötzlich kam mir eine Idee. Wenn ich schon im virtuellen High-Tech-Land als blinzelnde Mumie unter diesem Holo-Dingsda lag, dann brauchte ich doch gar keinen Spiegel! Ich suchte die obere Gerätekante nach einer kleinen Kamera ab. Bingo! Sie war tatsächlich da. Sie konnten mich also Tag und Nacht beobachten, sehen, was ich gerade tat. Zugegeben, ich lag hier wie ein zusammengerollter Teppich in einem Bett, konnte herumblinzeln und vielleicht auch noch schockiert dreinschauen. Aber sonst?! Da gab es nicht viel zu sehen. Ich lag unter einer Bettdecke, konnte zur Zimmerdecke starren oder die Augen schließen. Dass ich unter meiner Bettdecke nichts außer dieser ominösen Latexmanschette anhatte, konnte die Kamera nicht sehen. Dennoch fühlte ich mich nackt, beobachtet und in meiner Privatsphäre gestört.
Aber mein ursprünglicher Gedanke war ja auch ein gänzlich anderer. Ich wollte sehen, ob ich mich mit diesem Wunderding auch selbst sehen konnte. Nach einigem Herumprobieren fand ich schließlich das Menü Personenstatus . Noch einmal blinzeln und ich konnte mich oben sehen, wie ich da unten in einem weißen Bett lag. War ich das tatsächlich?
Man hatte mir den Schädel rasiert, aber die ersten Stoppeln kamen schon zum Vorschein. Anhand der Länge meiner Bartstoppeln schätzte ich, dass ich seit circa drei Tagen hier liegen musste. Die Wangen waren eingefallen und irgendwie sah meine Haut grau aus. Meine Augen lagen fiebrig glänzend in dunkel geränderten Höhlen. Selbst wenn ich einmal – was wirklich selten vorkam – dem Alkohol gestattete, bis in die letzten Kapillaren meiner Blutgefäße vorzustoßen, sah ich normalerweise besser aus. Ich wirkte, als hätte man mich zum Sterben in dieses Zimmer geschoben. Ich war geschockt!
Erst jetzt nahm ich die Informationszeilen wahr, die neben meinem ausgemergelten Konterfei standen. Alter: 36, Gewicht: 82 Kilogramm, Geschlecht: männlich. Zumindest das wusste ich jetzt mit Gewissheit. Die restlichen Informationen wie zum Beispiel den Blutdruck konnte man nach Belieben herunterscrollen.
Schließlich kam ich an den Punkt Restlaufzeit : 3648 . Restlaufzeit? Das hörte sich für mich nach der verbleibenden Laufzeit eines Atomkraftwerks an. Und 3648? Keine Ahnung! Ich fixierte die Zahl und blinzelte mit dem rechten Auge, um in das Untermenü zu gelangen. Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Sekunden standen dort.
Das Wort Tage war grau unterlegt. Ich begriff und ließ alle Hoffnung fahren. Noch 3648 Tage, die ich auf diese Weise vor mich hinvegetieren sollte. Ich wagte erst gar nicht, die Restlaufzeit auf Stunden oder gar Sekunden umzustellen. Nur um eine riesige Zahlenkolonne wie auf der Uhr der Steuerzahler zu sehen, die immer schneller die Zahlen wechselt? Nein, danke!
Stattdessen machte ich folgende Formel auf: Jeder Tag weniger Haft, ein Tag weniger meiner Qual = Jeder Tag weniger Qual, ein Tag weniger vom Rest meines Lebens.
Ich hasse nichts mehr als sentimentales Selbstmitleid. Dennoch badete ich geradezu darin, tauchte ein und ließ mich darin versinken. Das Bild vor mir wurde unscharf, verschwamm wie ein Aquarell und wurde im Bad meiner Tränen vollends aufgelöst.
Ich schloss völlig deprimiert meine Augen, um mich wenigstens dahin zurückzuziehen, wo ich mich bis dahin sicher fühlte … in den Schlaf.
Noch während ich nach dem erlösenden Schlaf suchte, hatte ich in Gedanken ein Plakat zur Szene gestaltet: Es zeigte meinen eigenen Kopf, wie ich ihn kurz zuvor noch über das Holo-Flat-Pad gesehen hatte. Allerdings war er komplett, wie der einer Mumie, in Mullbinden eingewickelt. Lediglich der Ausschnitt meiner Augen blieb ausgespart. Sie blickten panisch zwischen schwarzen Gitterstäben hindurch. Diese steckten im Fleisch meines Gesichtes und vergitterten die dunklen Augenhöhlen. Auf meiner Stirn prangte im Schriftcharakter einer Copperplate der Titel:
Körper–Haft
Und unten, wo die Bettdecke das Plakat begrenzte, stand:
Jetzt im Kino!
Doch das Kino in meinem Kopf hörte auch dann nicht auf zu flimmern, als ich endlich eingeschlafen war …
Die Grube
Schweißgebadet wachte ich auf. Mein Atem ging schnell, mein Puls raste. Die Tür wurde aufgerissen und zwei Pfleger sprangen auf mich zu. Währenddessen flammte die Deckenbeleuchtung auf und blendete mich wie das stechende Licht bei einer Migräneattacke. Ein ohrenbetäubender Pfeifton erfüllte den Raum. »Sein Vitalometer hat den Alarm ausgelöst – los hau ihm schnell was
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