Koerper, Seele, Mensch
Körper-Seins: nicht-trivial. So konnte erneut eine gemeinsame Wirklichkeit entstehen, in der ich etwas von seiner Todesangst und seinen Hoffnungen begriff. Es war eine zerbrechliche gemeinsame Wirklichkeit im Reich dieser Ikonizität, die da zunächst zwischen uns entstand, ein dünner Faden nur, an dem Herr F. aber von der Pforte des Todes zurück ins Leben finden konnte. Als seiner jüngsten Tochter etwa gleichaltrige Ärztin bot ich micherneut als Ersatz für diese Beziehung an, die ihm in seinem bisherigen Leben soviel bedeutet hatte. Indem er dieses Angebot aufgriff, kam es zu einer radikalen Neukonstruktion seiner individuellen Wirklichkeit. An die Stelle des schmerzerfüllten Körper-Seins trat das wieder autonome Körper-Haben eines in eine funktionierende Organismus-Umwelt-Beziehung eingebundenen Individuums. Die Dominanz des Subsystems »Lebertumor« mit der festen Verbindung »unerträgliche Schmerzen« war durch die Integration des Gesamtorganismus auf der Ebene der sozialen Beziehungen überwunden worden.
Zeichentheoretisch sind das Zeichenrepertoire des Auges und die Bedeutung des Blickverhaltens in der zwischenmenschlichen Kommunikation ein relativ gut erforschtes Gebiet. Man hat festgestellt, daß die verschiedenen Blickfunktionen, wie die Vermittlung von Sympathie, Intimität, Feindseligkeit, Aggression oder Dominanz ohne Berücksichtigung der Mimik oder des sozialen und kommunikativen Kontextes erkennbar sind (vgl. Nöth 2000).
Nachdem Herr F. endlich auch wieder in das symbolische Reich der Sprache zurückgefunden hatte, machte er von mir in dieser Tochterersatz-Rolle expliziten Gebrauch. Einerseits schilderte er mir seine Enttäuschungen der letzten Zeit, andererseits benutzte er mich aktiv als Mittlerin zwischen sich und seiner Familie: Ich sollte zunächst in seinem Beisein mit seinen Angehörigen sprechen, bevor er wieder das Wort an seine Familie richtete. Ich diente als Brücke, über die er seine Rolle als Familienoberhaupt wieder einnahm.
Wir hatten über den Regelkreis des Blicks wieder zueinander in Beziehung treten können. Es war die erste Beziehung,die der schwer depressive Patient wieder hatte aufnehmen können. Nach der um mich erweiterten Familienkonferenz konnte Herr F. zu Fuß in Begleitung seiner Familie das Krankenhaus verlassen und noch mehrere Wochen schmerzfrei zu Hause verbringen. Er hatte ein klares Ziel vor Augen, er wollte noch testamentarische Verfügungen treffen, in die seine Erfahrungen der letzten Wochen, insbesondere das Erlebnis, von seiner jüngsten Tochter verlassen worden zu sein, eingingen. Aus dieser Aufgabe erwuchsen ihm zur großen Überraschung und Verwunderung aller Beteiligten ungeahnte Kräfte. Er konnte seine Welt autonom so ordnen, daß es ihm möglich schien, sie auch zu verlassen. In dieser neu gewonnenen Autonomie verschwand sein Symptom ›Schmerz‹ vollständig, und er brauchte keinerlei Opiate mehr. Aber auch auf mich, die Ersatzdroge, konnte er verzichten, ich hörte von ihm nichts mehr, nachdem er entlassen worden war.
Dieser Fall veranschaulicht in drastischer Weise, wie der Verlauf einer Krankengeschichte davon bestimmt wird, nach welchem Modell der Arzt seinem Patienten begegnet: Sieht er in ihm einen ihm weithin unbekannten Menschen mit einer nach dem offenen Modell beschreibbaren Krankheit, die er zu behandeln versucht, oder verhält er sich gleichzeitig nach den Regeln des kommunikativen Realitätsprinzips, mit denen er anerkennt, daß sein Patient ein geschlossenes System ist, von dem er nur in der Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit verstehen und erkunden kann, was er erlebt und erleidet. Als Teil der Umwelt des Patienten in dessen Einheit des Überlebens wirkt der Arzt in jedem Fall, wobei die schädigende die hilfreiche Wirkung sehr wohl übersteigen, der Nocebo-Effektder Droge Arzt durchaus größer sein kann als der Placebo-Effekt.
Das geschlossene System der Einheit des Überlebens aus Organismus und Umwelt eröffnet der Medizin neben der objektiven eine subjektive Pathologie. Sie zeigt uns den Aufbau lebender Systeme aus Subsystemen verschiedener Ebenen (Zellen, Organe, Organismen, soziale Gruppen), die durch ›Aufwärts‹- und ›Abwärts‹-Effekte miteinander verbunden sind. Dieses komplexe Gebilde ist überraschend flexibel: Passungsverluste auf einer Ebene können über Kompensationsversuche auf einer anderen Ebene zu einer sofortigen Umkonstruktion führen, die die Einheit des Ganzen erhalten soll. Ein
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