Koerper, Seele, Mensch
patriarchalischen Gepflogenheiten übersteigenden Weise verfügen zu wollen. Es wurde spürbar, daß sie wohl auch nicht hatte erwachsen werden dürfen und mit ihrer jugendlichen Heiterkeit und Unbedarftheit die altersmüde Stimmung ihres Vaters vertreiben sollte. Zweifel daran, inwieweit er tatsächlich bereit war, sie mit einem Schwiegersohn zu teilen, schienen genauso angebracht, wie es mir unvorstellbar war, daß diese junge Frau Krankenpflegedienst verrichten würde.
Die Erschütterung, die Herrn F. ergriff, als sich seine geliebte jüngste Tochter in dieser Weise von ihm abwandte, war allumfassend. In dieser todessehnsüchtigen Stimmung mag ihm die durch mich gestellte Diagnose einer unheilbaren Krankheit in gewisser Weise einer Rehabilitation seiner Weltsicht vor seiner Familie entsprochen haben; als schwere zusätzliche Bedrohung seiner Person und seines Lebens war sie nicht mehr zu integrieren. DerBauchschmerz war sicherlich zunächst als körperlich geronnener Schmerz über den Verlust seiner Tochter im Sinne einer semiotischen Regression zu verstehen. Nachdem er aber darüber hinaus als Indiz einer todbringenden Krankheit interpretiert werden mußte, blieb Herrn F. nur noch der Weg in die Selbstaufgabe: Nicht nur die wichtigste Beziehung in seinem Leben war zerbrochen, jetzt drohte die Kontinuität seines Seins schlechthin zu zerbrechen, der Tumorschmerz kündete von der im Vergehen begriffenen Integrität zwischen Körper und Seele. In dieser aussichtslosen Lage fand Herr F. nach der Anbahnung einer Ersatz-Beziehung zu mir als seiner Ärztin die Kraft, ins Leben zurückzukehren und die Beziehungen zu seiner Familie neu zu ordnen.
Vor dem Hintergrund dieser Familiengeschichte kann man sich nun noch einmal genauer der Frage zuwenden, was hier zwischen mir und dem Patienten vor sich gegangen war und wie unsere Kommunikation aus der Sicht der Integrierten Medizin ablief.
Herr F. wurde mit einem unklaren Schmerzsyndrom stationär aufgenommen: Er litt an starken, immer abends zur selben Zeit einsetzenden und ihn die Nacht über wach haltenden rechtsseitigen Oberbauchschmerzen. Der behandelnde Stationsarzt hatte zunächst als krankhaften Befund lediglich die stark vermehrte Flüssigkeit im Bauchraum bei bekannter Leberzirrhose gefunden und behandelte in üblicher Weise harntreibend, auch in der Annahme, die Schmerzen könnten womöglich durch den erhöhten Druck im Bauchraum hervorgerufen werden. Die Flüssigkeitsmenge nahm so zwar ab, die Schmerzen blieben jedoch da. So kam es zu einem Passungsverlust zwischen Herrn F. und seinem Arzt: Der Arzt behandeltedie krankhafte Flüssigkeitsansammlung, Herr F. hatte Schmerzen, die ihm allnächtlich den Schlaf raubten und für die er keinerlei Linderung erfuhr.
Der Stationsarzt ging in Urlaub, und ich übernahm die Station vertretungsweise. Ich verstand Herrn F.s Symptom genausowenig wie mein Kollege, war aber der Überzeugung, daß ein Versuch der Schmerzlinderung mit Hilfe von Morphium angebracht sei, auch ohne passende Schmerzerklärung nach dem Ursache-Wirkungs-Modell. Diese Maßnahme verschaffte Herrn F. Linderung, er wurde weitgehend schmerzfrei und konnte nachts schlafen. Er fühlte sich insgesamt wohler und auch besser verstanden und gab seiner Zufriedenheit mit unserem Team, insbesondere aber mit mir, deutlichen Ausdruck.
Zwischen uns hatte sich eine Beziehung angebahnt, in der ich als Ersatzperson für die verlorene Tochter diente: Ich fühlte mit ihm und seinem Schmerz und versuchte zu lindern. Die Passung hatte sich dadurch verändert. Ich reagierte auf ihn nicht als geschwollenen Bauch, sondern auf einen Menschen mit Schmerzen, allerdings noch ohne Vorstellung von der Art seines Schmerzes. Als seine empathische Ärztin freute ich mich mit ihm, daß es ihm besserging, als seine zur Ursachenforschung verpflichtete Behandlerin bekam ich nach und nach selber sprichwörtliches Bauchweh, und so rollte ich die Diagnostik wieder auf, zunächst einmal per Ultraschall.
Von mir unbemerkt war es dabei erneut zu einem Wechsel des verwendeten Modells gekommen. Hatte ich durch den Wechsel vom offenen zum geschlossenen System zuerst eine gemeinsame Wirklichkeit mit dem Patienten herstellen können, als es um die Schmerzbekämpfung, um die Anerkennung seiner starken Schmerzenim Zustand des Körper-Seins ging, war ich nun zur Betrachtungsweise im offenen System zurückgekehrt. Nachdem ich den Tumor gefunden hatte, war mein Wissensdurst im Ursache-Wirkungs-Modell
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