Koerper, Seele, Mensch
Zeichenklasse verarmt, statt dessen hypertrophiert bei ihm – diese Verarmung ausgleichend – das ikonische Zeichen Schmerz. Auf seiten der Umgebung dominiert statt dessen Indexikalität. Die individuelle Bedeutung der Erkrankung (symbolische Ebene) und deren Wahrnehmung (ikonische Ebene) bleiben desintegriert und unverbunden. Dieses Phänomen kann Notindexikalisierung genannt werden. Bedeutungen und Gefühle sind zu belastend und werden deshalb in der Not desintegriert zugunsten mechanistischer Konstrukte.
Es ist allerdings nicht zum endgültigen Passungsverlust gekommen. Die Ärztin nimmt punktuell weiter einige ikonische Botschaften des Patienten wahr, vor allem den Ausdruck seines Blicks. Auch der Patient selbst gibt nicht auf. Er geht auf das Angebot der Ärztin ein und beginnt zu sprechen. Damit ist die symbolische Ebene wieder erreicht, die Bedeutung des ikonischen Zeichens Schmerz wird in gemeinsamer Wirklichkeit verständlicher.
In biosemiotischer Hinsicht sind jetzt alle Zeichenklassen integriert, in konstruktivistischer Hinsicht dominiert das kommunikative Realitätsprinzip, in systemischer Hinsicht ist jetzt die Systemebene des gesamten Organismus mit all seinen Beziehungen präsent, nicht nur ein Subsystem.
Interessanterweise entsteht in diesem integrativen Vorgang ein biographisches Narrativ. Der Patient konstruiert sich selbst und seine Lebensgeschichte durch Sinngebung und Bedeutungserteilung. Das Narrativ desPatienten, die Geschichte, die er für sich gefunden hat und zunächst mit seiner Ärztin, dann mit seiner Familie entwickelt, wirkt sehr lebendig. Auch dieses Phänomen ist für eine allgemeine Pathologie von Passungsstörungen bedeutsam: Jede unbehobene Passungsstörung hinterläßt im autobiographischen Narrativ ihre Spuren in Form pathologisch veränderter Teile. Dies können zum einen Bereiche sein, in denen einzelne Zeichenklassen desintegriert sind, zum anderen solche, in denen das kommunikative Realitätsprinzip zerfallen oder die Geschichte des Gesamtorganismus auf die Geschichte von Subsystemen reduziert ist. Wann immer wir mit einem Patienten seine Lebensgeschichte entwickeln, wird uns die Art und Beschaffenheit dieses Narrativs über Ausmaß und Schwere von Passungsstörungen und Passungsverlust in der Geschichte des Patienten informieren.
In der dualistischen Schulmedizin werden die Vorgänge der Bedeutungserteilung, der Passung, der Passungsstörung und der individuellen Konstruktion von Lebenswirklichkeiten ignoriert. Dennoch: Die Schulmedizin weiß um dieses Defizit, hat es erkannt. Letztlich spürt jeder Arzt auf seine individuelle Weise, daß der Mensch keine triviale Maschine ist, unterteilt in Körper und Seele. In der Schulmedizin hat sich innerhalb dieses blinden Flecks in den vergangenen Jahrzehnten ein neues Fach entwickelt, das unter dem Namen Psychosomatik weithin bekannt geworden ist.
9. Psychosomatik:
Die Notlösung
In einer Sendung des Bayerischen Fernsehens vom Dezember 2004, Die Sprechstunde , von der Ärztin Dr. Antje-Katrin Kühnemann moderiert, kam ein Patient zu Wort, der gleichzeitig selbst Arzt war – sozusagen ein ›Zwitterwesen‹. Er berichtete von seiner eigenen Krankengeschichte, die sieben Jahre zuvor mit einem sehr schmerzhaften Schulter-Arm-Syndrom begonnen hatte, das ihn stark einschränkte. Die Suche nach dem richtigen Arzt gestaltete sich schwierig, wenn sie auch eine Erfahrung war, die er nach eigener Aussage nicht missen wollte. Alle Münchner Koryphäen wurden aufgesucht, Neurologen, Orthopäden, Neurochirurgen, Ärzte für physikalische Medizin – und immer nur diejenigen, die als die besten galten. Dabei erhielt er von jedem der Ärzte eine andere Auskunft, zum Teil völlig konträrer Art: Der eine Arzt riet zur Operation, der nächste bezeichnete die Operation als das Schlimmste, worauf sich der Patient einlassen könne. Der eine Arzt empfahl Krankengymnastik, der andere befand, Krankengymnastik bringe gar nichts. Und wenn sich mehrere Ärzte einig waren, daß operiert werden müsse, so war der eine der Meinung, man solle von vorn operieren, der andere riet zum Gegenteil. Der eine Arzt sagte, man solle die Bandscheibe belassen, der andere wollte sie auf jeden Fall entfernen.
So ging der Patient ein halbes Jahr lang von Arzt zu Arzt und war verständlicherweise immer mehr verunsichert. Er fühlte sich nicht ernst genommen und allein gelassen, wurde zunehmend depressiv und erwog sogar,seinen Beruf aufzugeben, weil er wegen der
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