Koerper, Seele, Mensch
nahezubringen. Ich willigte ein, mich zu seinem Sprachrohr zu machen, unter der Bedingung, daß die Erbschaftsangelegenheiten dabei nicht berührt werden sollten. Die Besprechung fand am übernächsten Tag statt. Anschließendstand Herr F. auf und verließ zu Fuß, seinen Koffer tragend, in Begleitung seiner Familie das Krankenhaus.
Der Hausarzt sagte mir später am Telefon, Herr F. habe zu Hause noch einige beschwerdefreie Wochen verlebt und sei dann sehr schnell gestorben. Er habe sich nicht mehr ins Krankenhaus einweisen lassen wollen. Soweit er wisse, sei es noch zu einem Notariatstermin gekommen.
Wir kennen nur Bruchstücke der sonstigen Lebensgeschichte des Herrn F. Er stammte aus einfachen, ländlichen Verhältnissen, war in der Landwirtschaft groß geworden, aber wegen des ungenügenden Verdienstes sein gesamtes Erwerbsleben lang als Arbeiter in einem der wenigen größeren Industriebetriebe der Region tätig gewesen. Im Nebenerwerb war er Landwirt geblieben und hatte sich nach seiner Berentung als 62jähriger zusammen mit seiner Ehefrau, die noch sehr rüstig und gesund wirkte, wieder vermehrt der Landwirtschaft zugewandt.
Als junger Mann hatte er geheiratet, ein Haus gebaut und war mit Anfang 20, als Endzwanziger und als Mittdreißiger zum Vater jeweils einer Tochter geworden. Die älteste war seit vielen Jahren verheiratet, war Mutter zweier erwachsener Kinder und betrieb zusammen mit ihrem Mann als Pächter ein größeres Hotel am Ort. Die mittlere Tochter lebte als Hausfrau und Mutter zweier schulpflichtiger Kinder im Nachbarort im Eigenheim, ihr Mann war Jurist, sie selbst hatte den Beruf der Erzieherin erlernt. Die jüngste Tochter hatte bis kurz vor Ausbruch der Krankheit ihres Vaters im Elternhaus gelebt und war gerade erst ausgezogen, um einen Dänen, der von Beruf Angestellter eines Luftfahrtunternehmens war, zu heiraten und mit ihm nach Kopenhagen zu ziehen. Für HerrnF. war mit dem Auszug der jüngsten Tochter, zu der wohl schon immer eine besonders innige Beziehung bestanden hatte, eine Welt zusammengebrochen. Er hatte in ihr die Stütze seines und seiner Ehefrau nahenden Alters gesehen, er hatte ihr sein Haus vererben wollen, verbunden mit der Erwartung, daß sie ihn in alten und kranken Tagen versorgen solle.
Ich habe ihrer Art und ihrem Auftreten nach selten ein so unterschiedliches Schwesterntrio erlebt. Die älteste war, ähnlich wie ihre Mutter, eine eher unscheinbare Frau und trat, auch darin ihrer Mutter ähnelnd, ausgesprochen bescheiden und zurückhaltend, fast etwas scheu und unterwürfig auf. Dabei war die große Sorge um den Gesundheitszustand ihres Vaters immer deutlich spürbar. Die mittlere Tochter war eine ausgesprochen attraktive, elegante Frau um die 40. In ihrer schlanken Erscheinung eher dem Vater ähnelnd, ließ ihr Auftreten das Milieu ihrer Herkunftsfamilie nicht erkennen. Sie war sprachlich sehr gewandt, forderte immer wieder Aufklärung und Erklärung und konnte nicht verstehen, daß wir vor dem Tumor kapitulierten und erklärten, ihren Vater nicht heilen zu können. Die jüngste schließlich wirkte trotz ihrer 36 Jahre wie ein Schulmädchen, immer leicht unentschieden zwischen Flirten und Schmollen, und schien den Ernst der Lage kaum zu begreifen. Dabei schien sie von der Wichtigkeit der Aufgabe, ihren Vater zu besuchen, durchaus erfüllt, und mit der Hilfe ihres Ehemanns, der bei einer dänischen Fluggesellschaft beschäftigt war, jettete sie dauernd zwischen Basel und Kopenhagen hin und her.
Wir wissen nichts über frühere Krisen im Leben von Herrn F. Als man ihm zwölf Jahre vor der Tumorerkrankung die Diagnose einer Leberzirrhose mitteilte, konnteer, wie er selbst eher beiläufig erwähnte, von einem Tag auf den anderen auf jeglichen Alkoholkonsum verzichten. Die Angehörigen bestätigten die komplette Alkoholkarenz, und nur die älteste Tochter erwähnte mir gegenüber einmal, daß die Trinkgewohnheiten des Vaters zuvor ein Problem gewesen seien. Ich hatte nie Zweifel an der geglückten Überwindung seiner Alkoholkrankheit, vielleicht wegen der Strenge und Ernsthaftigkeit, die ich in der Kommunikation mit Herrn F. wahrnahm und die mir ein Spiel mit verdeckten Karten auszuschließen schienen.
Die Kopplung von Erbschaft und Versorgung der Eltern im Alter ist eine im äußersten Südwesten Deutschlands, im ländlichen Raum, durchaus noch sehr gebräuchliche Form der Erbschaftsregelung. Herr F. schien aber über seine jüngste Tochter in einer die
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