Kohl des Zorns
und her und beobachtete ohne die geringste Spur von Interesse, wie der Frühzug aus dem Brentforder Bahnhof rollte. Bis zur goldenen Uhr und der Pensionierungsrede waren es noch genau Sechsundsechzig Tage, und er gab verdammt noch mal keinen Dreck mehr auf das Geschehen. Genaugenommen gab er — wie so mancher alte Lokführer vor ihm — keinen Dreck mehr auf die königliche Bahn, seit das Dampflokzeitalter zu Ende war.
Ted erinnerte sich an die Jungen, die sich auf die Trittbretter der schweren Loks gestemmt oder die Brückengeländer gesäumt hatten, um sich im Dampf zu baden, wenn eine der schweren King Class unter Vollast und mit tönenden Pfeifen vorübergedonnert war … doch das war längst Schnee von Gestern. Die Romantik der Schiene war Vergangenheit, und mit ihr war Ted McCreadys Stolz auf seinen Beruf verschwunden. Niemand konnte ehrlichen Herzens etwas für eine elektrische Lokomotive empfinden. Sie besaß keine Persönlichkeit, kein Herz, keine Schönheit. Nur eine Zugmaschine mit einem seelenlosen elektrischen Motor darin.
Halbherzig hob Ted die Hand zu einem zweifingrigen Harvey Smith in Richtung des entschwindenden Zugs, dann wandte er sich um und schlurfte in Richtung seines gemütlichen Büros mit dem Morgenkaffee und dem nächsten Kapitel von Lebwohl am Fenster (einem Thriller von Lazio Woodbine).
Auf dem Bahnsteig blieb eine einzelne Gestalt zurück, der einzige Passagier, der aus dem Frühzug ausgestiegen war. Es war eine große, hagere Gestalt, kantig im Aussehen und gekleidet in einen Boleskine-Dreiteiler. In der Rechten hielt sie eine schwere, schweinslederne Reisetasche und in der Linken einen schwarzen Malacca-Gehstock mit einem silbernen Griff. Im linken Ohrläppchen steckte ein kleiner elfenbeinerner Ring, und ein verspiegelter Kneifer klammerte sich an den Rücken einer langen, adlerförmigen Nase. Ein Kranz aus schlohweißem Haar umgab den schmalen Schädel.
Der einsame Reisende war jemand, der schon so manchem hartgesottenen Veteran der kriminellen Bruderschaft das Herz in die Hose hatte rutschen lassen. Denn es handelte sich um niemand anderen als den Doyen aller Detektive, die Nemesis aller Tunichtgute — Abschaum, sei auf der Hut, Wegelagerer, flieht, Schurken, zieht die Köpfe ein, verbreitet die Kunde, richtet die Kameras, und Action! —: Inspektor Hovis von Scotland Yard.
Der Mann hinter dem verspiegelten Kneifer ließ seinen unsichtbaren Blick über den Brentforder Hauptbahnhof schweifen.
»Heh! Sie da!« Seine Stimme hallte über den Bahnsteig und traf Ted McCready, der in diesem Augenblick sein Allerheiligstes betreten wollte, machtvoll mitten in den Rücken.
»Beim heiligen Pankratius!« Der Stationsvorsteher preßte die Hand auf das heftig flatternde alte Herz und schwenkte herum.
»Genau, Sie dort! Gepäckträger! Hierher, und zwar ein bißchen schnell, wenn ich bitten darf!« Ein schmaler Sonnenstrahl, der zwischen den eisernen Stäben des Überwegs herunterschien, setzte den Detektiv auf das Perfekteste in Szene.
»Reden Sie mit mir?« keuchte Ted McCready und schielte seinen Peiniger unsicher an.
»Ganz genau, Bursche! Hierher, und zwar im Laufschritt!« Hovis deutete auf seine Schweinsledertasche. »Die wartet schon auf Sie.«
Mit bitteren, wenngleich gemurmelten Worten auf den Lippen, schleifte der alte McCready die schwere Tasche des Fremden über den Bahnsteig. Früher einmal hatte er über einen Gepäckwagen verfügt, doch der war längst weggerostet. Noch früher hatte er sogar einen lebendigen Gepäckträger gehabt, doch der war wegrationalisiert worden. Und er hatte einmal einen Leistenbruch gehabt … Mit der freien Hand betastete Ted die Stelle an seinem Unterleib. Der Bruch war immer noch da.
Ein gutes Stück vor ihm tänzelte die hagere Gestalt von Hovis ungeduldig auf und ab. Über die ausgepolsterte Schulter rief sie zurück: »Schneller, Herr Gepäckträger! Ein bißchen dalli sozusagen, wenn ich bitten darf! Tempus fugit!«
Ted McCreadys Blicke hätten töten können. Ted war der erste Einwohner Brentfords, der dem großen Detektiv begegnete, und er war zugleich der erste Mann, der den Fremden aus ganzem Herzen haßte.
Aber Ted würde nicht der letzte sein.
Kapitel 5
An der Ampel bog Omally nach rechts ab, dann wieder nach rechts und schließlich ein letztes Mal nach rechts in die Ganesha Lane. Marchant ratterte über das unebene Pflaster, und John spreizte im Sattel die Beine, während die beiden die Nebenstraße hinunter und an
Weitere Kostenlose Bücher