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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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elterlichen Apologetik eines »Wir meinen es
doch nur gut« der Riegel vorgeschoben. Noch in meiner Grundschulzeit muss es
gewesen sein, als mein Vater mir gegenüber zum ersten Mal einen Satz sagte, der
in seiner sprachlichen Schlichtheit und inhaltlichen Wucht wohl als typischer
Helmut-Kohl-Satz gelten darf:
»Du musst stehen!«
    Der innere
Widerhall dieses Satzes entfaltete seine Wirkung über viele Jahre. Zunächst
traf er mich tief, weil er ausdrückte, dass ich in meiner speziellen Lage von
meinem eigenen Vater keine Hilfe im Sinne von »beistehen« oder »unter die Arme
greifen« zu erwarten hatte. Er war die offensichtliche Ursache dessen, was ich
als mein Hauptproblem ansah, aber ich hatte damit zu leben, dass er mich nie in
irgendeiner Form »heraushauen« würde, wie ein kleiner Bub es sich von seinem
Papa, zumal wenn er so mächtig ist, wie der meine es war, instinktiv erhofft.
    Du musst
stehen - und zwar ganz für dich allein, so die implizite Botschaft.
    Du musst
stehen, das ist so ein Satz, mit dem ein Elternteil seine pädagogischen Maximen
dem eigenen Nachwuchs in unmissverständlicher Weise mitteilt. Ein Satz, der so
tief ins Gemüt sinkt, dass er dort seine verborgene Wirkung entfaltet, auch
wenn der heranwachsende Mensch ihn längst vergessen zu haben scheint. Ein Satz,
der einem wieder einfällt, wenn man im Nachhinein merkt, dass er gerade das
eigene Verhalten unbewusst gelenkt hat. Mit der Zeit begriff ich, dass diese
Maxime sich einerseits als Segen, andererseits als Fluch auf meine persönliche
Entwicklung auswirkte.
    Meine
Eltern waren zutiefst davon überzeugt, dass jeder ihrer Söhne seines eigenen
Glückes Schmied sein solle. Dass angesichts ihrer eigenen, außergewöhnlichen
gesellschaftlichen Rolle damit die familiäre, uneinlösbare Utopie verbunden
war, wir könnten ein normales Leben führen und ganz selbstverständlich unseren
eigenen Weg gehen, verstanden sie nie.
    Ende der
Sechzigerjahre radikalisierten sich Teile der zerfallenden APO und begannen,
aus dem Untergrund heraus Attentate zu verüben. Der deutsche Linksterrorismus
entstand. Wenn die Terroristen auch nicht ein einziges ihrer proklamierten
politischen Ziele erreichten, so schafften sie es doch, dass sich die
Lebensbedingungen von führenden Repräsentanten von Staat und Wirtschaft
drastisch und unumkehrbar veränderten. Für sie und ihre Angehörigen wurde
erstmals ein ständiger bewaffneter Personenschutz eingeführt. »Sicherheit« war
bald auch in unserer Familie ein Thema, das ganz oben auf der Tagesordnung
stand. Für mich, ein Kind im Grundschulalter, das sich gern im Freien bewegte,
bedeutete diese Entwicklung einen fühlbaren Einschnitt.
    Die erste
markante Änderung verfolgte ich mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen.
Direkt neben unserem Zuhause in der Tiroler Straße befand sich ein unbebautes
Grundstück. Gerade weil es verwildert und unwegsam war, bot es Peter und mir
ideale Möglichkeiten zum Spielen. Eines Tages rückten Arbeiter mit Maschinen an
und rodeten es. Von nun an stand dort ein weißer Wohnwagen mit einer großen
Antenne. Tag und Nacht stiegen fremde Männer ein und aus. Wie aus dem Nichts
erschienen sie auch immer wieder auf unserem eigenen Grundstück. Sie forschten
überall herum und kannten bald schon all unsere sorgfältig geheim gehaltenen
Kinderverstecke. Überall waren jetzt Männer, die uns zu beobachten schienen,
sich sonst aber nicht um uns kümmerten und offenbar auch nicht mit uns reden
wollten. Es gab keine Rückzugsmöglichkeiten mehr, alles wurde überwacht und
kontrolliert.
    Doch damit
nicht genug. Auch in der Schule, ich ging jetzt in die zweite Klasse, wurde die
Klimaveränderung spürbar. Erst waren da die stummen, ernsten Blicke meiner
Lehrer. Es setzte sich fort, indem sie mich mit Beschwichtigungen wie »Es wird
schon nichts passieren« und »Du brauchst dir aber keine Sorgen zu machen«
bedachten.
    Sorgen
machen - weshalb?
    So fragte
ich mich. Nicht nur aufseiten meiner Lehrer gab es viel Getuschel, aber keine
offene Aussprache. Man redete drum herum, wie es auch verklemmte Erwachsene
gegenüber pubertierenden Kindern in Sachen Sexualität tun. Dem Thema war
jedoch insofern nicht mehr auszuweichen, als dass etwas getan werden musste.
So wurden »Maßnahmen ergriffen«, wie man es nannte, polizeiliche Maßnahmen
nämlich. Für mich bedeutete das: Überwachung beim Spielen daheim und
Polizeischutz auf dem Schulweg.
    Meine
Mutter versuchte mir nach bestem Vermögen zu

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