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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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einer Fülle von Regeln, Geboten und Verboten zu überziehen. Dass
dies sein musste, war schiere Notwendigkeit, angesichts der beschriebenen
Umstände. Dennoch lebte in Mutters Regelwerk, für uns sehr wohl erkennbar,
eine Art höherer Sinn. Deshalb war es ihr auch wichtig, dass wir Kinder
verstanden, warum sie uns etwas verordnete, auch wenn wir es vielleicht nicht
einsahen, dass es wirklich sein musste. Wenn wir nicht zum Spielen raus
durften, lieferte sie uns stets eine Begründung für das Verbot. Diese stellte
uns zwar nicht immer zufrieden, aber sie entzog sich nie einer ernsthaften
Diskussion - bis zu einem gewissen Punkt, an dem Schluss war. Dann hatten wir
uns in unser Zimmer zu trollen.
    So war ich
es gewohnt, immer nach dem »Warum« zu fragen und zumindest eine Antwort zu
erhalten, wenn natürlich auch nicht immer eine befriedigende. Und da ich selbst
von unserer Mutter zur absoluten Offenheit und Ehrlichkeit erzogen wurde,
erwartete ich auch Offenheit und Ehrlichkeit mir gegenüber. Genau da lag aber
der Hase im Pfeffer, was den innerfamiliären Umgang mit der urplötzlich über
uns hereinbrechenden Terrorismusgefahr anging. Hier wurde laviert, statt
informiert, und es wurde erwartet, dass man sich ohne Diskussionen fügte. Da
meine Mutter die Notwendigkeit des Personenschutzes mir gegenüber vertrat und
als unumgängliche Maßnahme durchsetzte, folgerte ich in meiner kindlichen
Naivität, dass sie dafür auch verantwortlich war. Ich begann zu rebellieren,
und zwar ihr gegenüber, ganz persönlich. Dabei verlagerte ich die
Auseinandersetzung ungerechterweise auch auf Gebiete, die mit dem eigentlichen
Problem gar nichts zu tun hatten. So lernte ich zum ersten Mal, wie
Verschweigen und Verdrängen das Klima zwischen zwei Menschen, die sich innig
lieben, trüben und sogar vergiften kann.
    Es entbehrt
nicht einer gewissen Ironie, dass derjenige, der mir noch am ehesten die
Hintergründe jener drastischen Veränderungen unserer Lebensumstände hätte
erklären können, davon gänzlich entlastet wurde. Es war allein unsere Mutter,
die uns gegenüber den Kopf dafür hinhielt! Erst Jahre später stand mir klar vor
Augen, dass es mein Vater gewesen war, der in Ausübung seiner politischen Ämter
auch unsere Familie in die Liga der Topgefährdeten befördert hatte.
    Es gab da
noch etwas, das meinen Vater mir gegenüber in eine Rolle brachte, aus der er
sich wohl nie selbst hätte befreien können, auch wenn er es gewollt hätte. Die
Umwandlung meines Vaterbildes musste ich allein bewerkstelligen, und das
schaffte ich erst viel später. Mit ihm beschäftigte ich mich zum damaligen
Zeitpunkt gedanklich nur, wenn sein Kommen unter ganz besonderen Auspizien
bevorstand. Ich meine seine Funktion als Vorsitzender des hohen
Familiengerichts. Wie jede Frau, auf der die volle Verantwortung für die
Kinder, zwei rechte Racker zumal, ruht, gelangte auch unsere Mutter bisweilen
an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Und dann griff sie auch schon mal zu einer
Drohung, die in ihrer ultimativen Art zwar unmittelbare Wirksamkeit verspricht,
aber den Respekt der Kinder der Mutter gegenüber jedoch tendenziell untergräbt:
»Warte nur, bis der Papa nach Hause kommt. Dann kannst du
was erleben!«
    Ja, und
wenn er dann kam, in der Regel mit einem Verzug von mehreren Tagen, was die
Anspannung vor dem Gerichtstag nur erhöhte, wurde kurzer Prozess gemacht.
Immer wieder musste ich zum Rapport antreten, es war ein festes Ritual. Ganz
gleich, was ich ausgefressen hatte, der erste Tagesordnungspunkt war
unweigerlich der aktuelle schulische Leistungsnachweis. Da gab es eine einfache
Skala. Ich nannte es die »Ampel«. Einser und Zweier waren grün, Dreier waren
gelb, ab Note Vier abwärts war es Rot. Mein häuslicher schulischer Richter war
strenger als meine Lehrer! Für jede Rot-Stufe gab es ein differenziertes
Szenario erzieherischer Maßnahmen (es musste Gott sei Dank nicht oft in Kraft
gesetzt werden). Der zweite Tagesordnungspunkt war mein aktuelles Betragen, und
ich muss gestehen, hier gab es häufiger Anlass zum Eingreifen väterlicherseits
- wenn auch meistens nur als die Delegierung einer »Maßnahme« an die
eigentliche Erziehungsperson. Allerdings standen für besonders schwere Fälle
von Grenzüberschreitung die beiden großen gelben Hausschuhe des Patriarchen
stets parat. Die »Versohlung« war manchmal durchaus wörtlich zu nehmen und
ausschließlich seiner Hand vorbehalten. Danach aber war die Sache sofort
ausgestanden. Es wurde

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