Kohl, Walter
Strecke zurückgelegt, da geschah es. Aus dem Nichts
ereilte mich seine Frage, wie ein Schlag in den Nacken:
»Papa, ist das Leben schön?«
Ich glaube
nicht, dass dahinter eine lange Überlegung steckte. Es platzte aus ihm heraus,
einfach so. Dennoch offenbarte die Frage ein feines Gespür für die Situation.
Mit dem unverbildeten Sensorium eines Kindes, das die Probleme der Erwachsenen
noch nicht zu seinen eigenen gemacht hat, aber sehr wohl schon um sie weiß,
hatte mein Sohn den Nagel auf den Kopf getroffen. Er empfand klar und deutlich,
dass vieles um ihn herum nicht in Ordnung war, dass es Streit gegeben hatte,
dass Unsicherheit und Spannungen das Leben unserer Familie beherrschten. Und er
fasste die gesamte Lage - wie es wohl nur ein fünfjähriges Kind vermag - aus
seiner ureigenen Sicht in einer verblüffend präzisen Frage zusammen. Einer
Frage, die für mich als seinem Vater mit der unausgesprochenen Bitte um eine
ebenso präzise Antwort verbunden war. Doch damit erwischte er mich nicht nur
auf dem falschen Fuß, nein, diese Frage zog mir förmlich den Boden unter den
Füßen weg.
Es gibt im
Leben Momente, die so viel Energie in sich bergen, dass man ihre Kraft und
Bedeutung nicht sogleich erfassen und in sich aufnehmen kann. Wenn wir diese
Momente annehmen, dann können sie zu echten Wendepunkten auf unserem Lebensweg
werden. Als die Frage meines Sohnes wie in großen Lettern geprägt im Räume
stand, wusste etwas tief in mir, dass es kein »Weiter so!« mehr geben, dass ich
mich nun nicht mehr vor mir selbst verstecken konnte ... Nach dieser Frage
konnte ich nicht länger vor mir selbst weglaufen, konnte ich nicht länger mit
geschlossenen Augen durchs Leben gehen. Durch sie wurde ich endlich zur Ehrlichkeit
mir selbst gegenüber gezwungen. Ich konnte einfach nicht mehr länger
ausweichen, diese Frage zwang mich dazu, mir endlich Klarheit über mein Leben
zu verschaffen.
In jenem
Moment jedoch, konfrontiert mit einer scheinbar simplen Frage, deren
Ungeheuerlichkeit ich nur dumpf, aber fast physisch empfand, fühlte ich mich
völlig überfordert. Ich gab meinem Sohn eine Antwort, deren Unüberlegtheit und
Oberflächlichkeit geradezu erschreckend war und für die ich mich sogleich
schämte. Ich muss gestehen, ich weiß nicht einmal mehr, was genau ich gesagt
habe. Es war mein letzter verzweifelter Versuch, dem Spiegel auszuweichen, in
den ich nun doch würde blicken müssen.
Sein
skeptischer Blick zeigte unmissverständlich, dass mein Sohn mir nicht so recht
glaubte. Zwischen uns beiden stand ein betroffenes, fast peinliches Schweigen,
eine Beklemmung, geboren aus Verunsicherung, Sprachlosigkeit und Überforderung.
Doch hier war nichts mehr zu reparieren, nicht jetzt jedenfalls. Mein kleiner
Junge hatte mich geprüft - und ich war durchgefallen. Er hatte mich dermaßen
aus den Angeln gehoben, dass ich am ganzen Körper zitterte. Ich musste
anhalten. Tränen liefen mir übers Gesicht. Wir saßen eine kurze Weile einfach
so da, wortlos.
Kindlicher
Pragmatismus ist ein wirksames Hausmittel zur Linderung wenigstens der
Symptome, wenn nicht der Ursachen elterlicher Verzweiflung. Nach kurzer Zeit
schon wurde er ungeduldig.
»Bitte fahr mich jetzt zum Kindergarten.«
Dort
lieferte ich ihn dann auch wenige Minuten später ab. Er stieg aus dem Auto,
verabschiedete sich mit einer Umarmung, die etwas fester war und ein wenig
länger dauerte als gewöhnlich, und lief zu seinen Freunden, wahrscheinlich
heilfroh darüber, seinen Vater in dieser wenig ersprießlichen Stimmung hinter
sich lassen zu dürfen. Ich hatte die Fassung immer noch nicht ganz
wiedergewonnen. Meine Gedanken spielten verrückt, mein Puls raste, und kalter
Schweiß stand mir auf der Stirn. Schon musste ich erneut anhalten, fürchtend,
den Anforderungen des starken Berufsverkehrs nicht gewachsen zu sein. Da saß
ich nun, den Wagen in einem Feldweg geparkt. Ich war so aufgewühlt, als ob
eine Lawine tief in meinem Innersten losgetreten worden wäre. Länger als eine
halbe Stunde verweilte ich so, und in meinem Kopf hämmerte es immer wieder und
wieder: Papa, ist das Leben schön?
Im
tiefsten Innern wusste ich, dass sich gerade etwas für mich sehr Wichtiges und
zugleich Wertvolles zugetragen hatte. Mein Sohn hatte mich etwas ebenso
Einfaches wie Bedeutsames gefragt, wie ein unbestechlicher Richter den Augenzeugen
eines Geschehens befragt, das für alle Beteiligten von allergrößtem Belang ist.
Ich hatte mir selbst unwiderlegbar vor Augen
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