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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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Kainsmal auf der Stirn herumzulaufen.
    Irgendwann
hatte ich die Nase gestrichen voll. Ich weigerte mich, weiter in die Schule zu
gehen. Ich weinte und flehte meine Mutter an, die Polizei wieder wegzuschicken.
Ich dachte, dies stünde in ihrer Macht, weil ich glaubte, dass sie selbst die
Polizei zu unserem Schutz gerufen hatte. Doch sie blieb hart. Auch ich
schaltete auf stur. Da versprach sie mir, die Bewachung werde nur bis zu den
Osterferien andauern. Das waren nur noch wenige Wochen. Ich lenkte ein und
hielt bis dahin durch. Umso größer war mein Entsetzen, als pünktlich zum ersten
Schultag nach den Ferien der Personenschutz wieder vor der Tür stand, um mich
zur Schule zu begleiten! Ich kann mich noch sehr lebhaft an die heftigen
Auseinandersetzungen mit meiner Mutter erinnern, die darauf folgten. Der
Vertrauensbruch tat mir sehr weh, ihre Glaubwürdigkeit war in meinen Augen infrage
gestellt, für eine Weile sogar schwer beschädigt. Auch meine Mutter vergaß die
Angelegenheit nicht. Fast dreißig Jahre später sprach sie das Thema erneut an,
und zwar von sich aus. Sie gestand mir, dass sie sich damals total überfordert
gefühlt hatte und fast verzweifelt wäre. Sie hatte große Angst um mich und
stand vor dem Dilemma, dass ich entweder entführt oder gar getötet würde, oder
dass sie es zuließ, mich seelisch zu verletzen. Deshalb griff sie zur Notlüge.
    Das
Phänomen des Terrorismus überraschte damals ein ganzes Land. Der gesamte
Sicherheitsapparat wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Die Polizei war völlig
ungeübt in ihren Reaktionsweisen, etwas Vergleichbares zu den heutigen SEKs gab
es noch gar nicht. Erst nach dem polizeilichen Debakel beim Attentat auf die
israelische Olympiamannschaft 1972 wurden diese neuen Strukturen aufgebaut.
Auch die Politiker waren tief verunsichert. Sie und ihre Familien gehörten zu
den Menschen, die sich in allererster Linie im Visier der RAF befanden und in unmittelbarer
Todesgefahr schwebten. Für sie gab es keinerlei kompetente Beratung, keine
psychologische Unterstützung, nichts. Ich nehme es meiner Mutter ab, dass ihre
Notlüge sie damals sehr schmerzte. Sie sah keinen anderen Weg, als Zeit zu
gewinnen und zu hoffen, dass es besser würde. Damals herrschte die Meinung
vor, dass bewaffneter Personenschutz nur ein zeitlich begrenztes Phänomen sein
würde.
    Als Kind
in diesem Alter kam ich nie auf den Gedanken, das Thema Terrorismus mit meinem
Vater zu besprechen. Erstens war es mir nicht möglich, seine Tätigkeit
gedanklich in den Zusammenhang mit der Bedrohung unserer Familie zu stellen.
Warum sollte man ihn bedrohen? Er machte doch nur seine Arbeit, wie jeder
andere auch. Zweitens stand er für vertrauliche Gespräche, wie sie sich wohl
jedes Kind mit seinem Vater wünscht, leider nicht zur Verfügung. Er hatte
schlicht keine Zeit, seine Prioritäten lagen woanders. Auch an den Wochenenden
war er häufig nicht zu Hause, und wenn, dann hing er oft endlos am Telefon fest,
oder er beugte stundenlang den Kopf über seine Papiere. Ihn dabei zu stören,
war undenkbar für uns Söhne. Kam Besuch, wurden wir kurz vorgestellt und dann
meist zum Spielen weggeschickt. Vater und Mutter sprachen viel miteinander,
aber fast immer über Dinge, die ich nicht verstand. Mit uns dagegen sprach er
weniger.
    Mit einem
Wort: Selbst wenn er zu Hause weilte, war Vater für uns Kinder, solange wir
noch klein waren, nur begrenzt erreichbar. Dass ein Vater seinem Sohn »die Welt
erklärt«, dass er seine neugierigen Fragen beantwortet, dass er mit ihm spielt,
dass er - wie es die heutige Pädagogik nennt - »Qualitätszeit« mit ihm
verbringt: All das hatte in unserer Familie keine Priorität.
    Wahrscheinlich
war ich kein wirklich folgsames Kind. Das Problem in den Augen meiner Eltern
und Lehrer bestand vermutlich weniger darin, dass ich mich nicht zu benehmen
wusste. Es war eher die Frage, ob ich es wollte. Ich konnte aufbrausend und
wild sein und testete meine Grenzen gern aus, ohne mögliche Gefahren zu bedenken,
in die ich mich möglicherweise begab. Ich konnte mich auch leidenschaftlich
gegen eine mir auferlegte Begrenzung auflehnen, aber ich meine sagen zu dürfen,
dass dies meist geschah, wenn diese mein Gerechtigkeitsempfinden verletzte.
Unsere Erziehung lag so gut wie vollständig in der Hand unserer Mutter. Ihr
Umgang mit uns war, wie man heute wohl urteilen würde, ausgesprochen streng. Es
war aber sehr wohl fühlbar, dass es ihr nicht darum ging, unseren Alltag aus
Prinzip mit

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