Kohl, Walter
Garten, das unbebaute
Nachbargrundstück sowie, wenn von Mutter einmal ausdrücklich erlaubt, ein
Stückchen der anliegenden, ausgesprochen ruhigen Straße. Hannelore Kohl war
eine in jeder Beziehung fürsorgliche Mutter, die ihre beiden Buben stets im
Auge behielt. Mein Bruder Peter wurde 1965 geboren.
Wir
wuchsen auf in einer Art kindlicher Enklave in der Welt der Eltern, einer Welt,
die zur selben Zeit immer größer wurde. 1963 war mein Vater
Fraktionsvorsitzender der CDU im rheinland-pfälzischen Landtag geworden, im
Jahr 1966 wurde er ihr Landesvorsitzender. Mit seiner Karriere ging es Stück
für Stück bergauf.
In einer
kleinen Wohnung unterm Dach lebte unsere Großmutter mütterlicherseits. Sie war
mit unserer Mutter in den Wirren des Krieges unter abenteuerlichen Umständen
nach Ludwigshafen gekommen. Es war eine Herzenssache für meine Mutter, sie
unter unserem Dach den Lebensabend verbringen zu lassen, da sie als Witwe
sonst allein gewesen wäre. Zu meinen engsten Bezugs»personen« gehörte auch Igo,
unser deutscher Langhaarschäferhund, ein imposantes Tier mit einer
unverbrüchlichen Liebe zu uns Kindern. Was ich erst allmählich begriff, war
die eigentliche Funktion des wohl wichtigsten Spielkameraden meiner frühen
Kindheit: Igo war ein ausgebildeter Polizeihund und die allererste
Sicherheitsmaßnahme, die für uns ergriffen wurde.
Es war
dies also eine nicht nur räumlich sehr überschaubare Welt, sondern auch
personell. Es waren kaum ein Dutzend Menschen, die sie bevölkerten.
Spielkameraden fand ich in der Nachbarschaft. Besucher gab es sicher viele,
doch ich kann mich kaum daran erinnern. Die allerwichtigste Person im
Familienkosmos stellte Mutter dar. Sie war die unumstrittene Herrscherin über
mein junges Leben. Ihr Wort war Gesetz. Danach kam mein Bruder. Wir spielten
gern und viel miteinander. Auch wenn wir uns dabei immer wieder stritten, so
waren wir letztlich doch ein Herz und eine Seele, ein Verhältnis, das wir uns
bis auf den heutigen Tag erhalten haben.
Einen Gast
gab es jedoch in unserem Hause. Es schien mir zumindest so. Ich meine meinen
Vater. Er hatte so viel zu tun, dass er kaum bei uns zu Hause sein konnte. Und
wenn, vergrub er sich nach den Mahlzeiten meist in seinem kleinen
Arbeitszimmer. Es war selten, dass er sich mit uns beschäftigte. Doch das
störte mich eigentlich gar nicht. Ich kannte es nicht anders, und es erschien
mir völlig normal, dass ein Vater draußen, in der großen weiten Welt, dafür zu
sorgen hatte, dass seine Familie zu Hause ruhig und in Frieden leben konnte.
Schließlich sah auch mein bester Freund, der Junge von gegenüber, seinen Vater
fast nie. Der war Fernfahrer und kam genauso selten nach Hause wie der meine.
Da war
allerdings ein Unterschied, und zwar ein gewaltiger: Sein Vater fuhr immer im
Lkw vor, was mir sehr imponierte. Der war nicht nur riesig groß, sondern er
hatte auch einen sehr lauten Motor. Wenn sein Vater vorfuhr, brachte er das
majestätische Vehikel immer mit einem durchdringenden Zischen der Bremsen zum
Halten. Als Zeichen, dass er jetzt da war, ließ er die tiefe, sonore Hupe
ertönen. Mein Vater dagegen kam immer irgendwie auf leisen Sohlen nach Hause,
den Kopf voller Gedanken. Damit konnte ich wenig anfangen, und ich fand zudem,
dass das schwarze Auto, das er benutzte, längst nicht so imposant war wie der
bunt bemalte Laster des Nachbarn. Wie gut, dass sein Vater uns Jungen
gelegentlich ins Fahrerhaus seines formidablen Gefährts steigen und sogar hupen
ließ! Mein Freund platzte fast vor Stolz auf seinen Vater, und ich war froh,
auch ein wenig von dessen Glanz und Größe profitieren zu dürfen.
Ein
gewisses Problem stellte es für mich dar, dass ich eigentlich gar nicht
wusste, was mein Vater so tat, wenn er nicht zu Hause war. Der Vater meines
Freundes übte eine Tätigkeit aus, die ich verstehen konnte. Er war Fernfahrer,
brachte Güter von einer Stadt zur anderen, ein wichtiger Mann mit einer klaren
Aufgabe also, sogar aus der Sicht eines vier- oder fünfjährigen Jungen. Doch
was machte mein eigener Vater eigentlich? Zwar erlebte ich es immer wieder,
dass Erwachsene über ihn sprachen, sogar wenn er nicht zu Hause war. Aus dem,
was sie sagten, gewann ich den Eindruck, dass es wichtige Dinge sein mussten,
die er tat. Man zeigte mir sein Bild in der Zeitung. Aber da ich nicht wirklich
verstand, worum es dabei ging, zweifelte ich daran, dass es genauso wichtig
sein konnte wie einen großen Laster zu fahren und viele
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