Kohl, Walter
immer
wieder. Dass es nicht selten offene Feindseligkeit ausdrückte, begriff ich
schon als Kind. Um zu verstehen, dass Neid und Verachtung sich nicht
gegenseitig ausschließen, sondern im Gefühl ein und desselben Menschen in
trauter Nachbarschaft existieren können, brauchte ich etwas länger. Tuschelnde
Neugier wirkte stets verunsichernd auf mich. Ja, ich erfuhr auch durchaus
aufrichtig gemeinte Mitleidsbekundungen. Allerdings fragte ich mich immer
wieder, warum nur wenige dieser Wohlmeinenden begriffen, dass mir ihre Art,
Verständnis zu zeigen, eher peinlich war.
All das
hat mir sehr zu schaffen gemacht. Ich wollte immer nur mein eigenes Leben
führen, und vermochte es doch oft nicht. Es schien, als ob das Schicksal selbst
mir den Kampf angesagt hätte, indem es mich in den Schatten eines großen
Mannes, der mein Vater ist, gestellt hatte. Ich habe reagiert wie einer, der
sich angegriffen und bis ins Mark getroffen fühlt. Lange gab es für mich nur
zwei Möglichkeiten, um dieser schier unüberwindlichen Herausforderung zu
begegnen: Kampf oder Flucht.
Erst mit
der Zeit entdeckte ich einen dritten Weg. Heute kann ich sehr gut damit leben,
den Namen Kohl zu tragen - und gleichzeitig ich selbst zu sein. Vielleicht
hätte ein anderer an meiner Stelle es früher geschafft. Ich brauchte dazu
Hilfe: Schicksalsschläge, die mich erst aus der Bahn warfen und dann auf neuen
Kurs brachten, sowie persönliche Erfolge, die ich mir vorher nicht zugetraut
hätte und die mir zeigten, dass auch ein Mensch wie ich wertvolle Talente hat.
Auch hat es mir geholfen, als mein Vater sich schließlich aus dem politischen
Geschäft zurückzog, einfach weil seither auch in mein Dasein mehr Ruhe
eingezogen ist, selbst wenn ein öffentliches Interesse an unserer Familie nach
wie vor spürbar bleibt. Offenbar brauche ich ein Mindestmaß an Ruhe und
Frieden, um zu mir selbst zu finden, um mich zu erfinden.
Das
Entscheidende aber war, dass ich etwas entdeckte, das mein Leben von Grund auf
heilte und erneuerte. Es war das kostbarste Fundstück auf einem langen und
gewundenen Weg und führte mich schließlich zu mir selbst: Versöhnung. Ich weiß,
es klingt ausgesprochen gefühlsbetont, vielleicht sogar ein wenig kitschig in
manchen Ohren, aber für mich steckt darin die Chance, mit dem Unabänderlichen
seinen Frieden zu machen und den eigenen Weg zu gehen.
Versöhnung
ist nicht nur die Kraft, die Menschen zueinander
führt, sondern auch die Kraft, die einen Menschen zu sich selbst bringt.
Lange war
Versöhnung für mich etwas, das vornehmlich in die Politik gehörte. Etwas, das
mein eigener Vater mit anderen Größen wie Gorbatschow und Mitterrand
praktizierte. Ganz weit oben, ganz weit weg. Ich durfte meinen Vater begleiten,
als er über den Gräbern von Verdun Mitterrands Hand ergriff. Eine große Geste
der Versöhnung zwischen Völkern. Aber Versöhnung als Mittel zur Gestaltung
meines eigenen Lebens? Nein, darauf wäre ich nicht gekommen.
Lange ging
ich einen anderen Weg. Ich haderte mit meiner Situation, kämpfte gegen
Windmühlenflügel und wehrte mich mit dem Mut der Verzweiflung gegen mein -
ungeliebtes - Schicksal. Ich wurde ernst und ernster. Ich verlernte, mich von
Herzen zu freuen. Mit der Zeit versteinerte ich innerlich. Der Verlust an Lebensfreude
war vielleicht der größte Schaden, den ich mir selbst zufügte. Dabei begriff
ich vor allem eines nicht: Ich wurde nicht zum Opfer gemacht, sondern ich nahm
die Opferrolle an.
Endlich
begriff ich, dass jede wirkliche Wandlung immer im eigenen Innern beginnen
muss. Das war der Moment, in dem ich den Wert der Versöhnung für mein Leben
erkannte. Dass sie nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich von Bedeutung
ist, wenn Menschen miteinander im Streit liegen, sondern mindestens ebenso
sehr im Innerpsychischen, nämlich für den einzelnen Menschen, der mit sich
selbst im Streit liegt. Versöhnung hilft, heilt und wandelt von innen her. Indem
ich dieses Buch schreibe, halte ich mir selbst den Spiegel vor. Indem ich meine
Geschichte erzähle, schaue ich mir mein bisheriges Leben genau an. Und es wird
mir selbst klarer, welche Kraft es bewirkte, dass ich endlich leben kann, ohne
gelebt zu werden.
Mein
Geburtsjahr ist 1963. Meine Eltern lebten damals noch in einem schlichten
Einfamilienhaus in Ludwigshafen-Gartenstadt, erst im Herbst 1971 zogen wir
nach Oggersheim um. In der Gartenstadt war alles beschaulich und überschaubar.
Meine kleine Welt umfasste das Haus, den dazugehörigen
Weitere Kostenlose Bücher