Kolyma
tatsächlich Verbrechen gab. Die Freiheit, die man Leo zugestanden hatte, war ziemlich relativ, und nachdem er alles in seiner Macht Stehende unternommen hatte, um seine frühere Laufbahn bei der Geheimpolizei hinter sich zu lassen, stellte er nun fest, dass er wieder eine geheime Polizeieinheit leitete, allerdings eine ganz andere.
Die rasche Erklärung von Moskwins Tod hatte ihn misstrauisch gemacht. Leo untersuchte den Schauplatz des Verbrechens. Sein Blick blieb an dem windschiefen Stuhl haften, der unauffällig vor dem Schreibtisch stand. Leo trat näher, hockte sich hin und fuhr mit dem Finger über eine dünne Bruchstelle an einem der Holzbeine. Vorsichtig stützte er sich auf die Lehne, drückte zu und sofort brach das Bein entzwei. Der Stuhl war kaputt. Sobald sich jemand auf ihn gesetzt hätte, wäre er zusammengebrochen. Trotzdem hatte er so vor dem Tisch gestanden, als sei er in Ordnung.
Leo richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Leiche und betrachtete die Hände des Opfers. Keine Wunden, keine Kratzer, kein Zeichen, dass der Mann sich verteidigt hatte. Er kniete sich hin und beugte sich zum Hals des Opfers hinunter. Außer im Nacken, der auf dem Boden gelegen und vor den Messerhieben geschützt gewesen war, war kaum noch heile Haut übrig. Leo holte ein Messer hervor, schob es dem Opfer unter den Nacken, und als er die Klinge anhob, kam ein Stückchen Haut zum Vorschein, die nicht aufgeschlitzt war, allerdings aufgescheuert. Er ließ den Hautlappen wieder sinken und zog das Messer zurück. Gerade wollte er aufstehen, da entdeckte er ein schmales Büchlein in der Anzugtasche des Mannes. Er griff hinein und holte es heraus - Lenins Staat und Revolution. Schon bevor er es aufschlug, konnte er sehen, dass etwas an der Bindung ungewöhnlich war. Man hatte ein Blatt eingeklebt. Als er die betreffende Seite aufschlug, sah er das Bild eines mitgenommen aussehenden Mannes. Leo hatte zwar keine Ahnung, wer er war, doch diese Art von Fotografie kannte er gut - der grellweiße Hintergrund, der verwirrte Gesichtsausdruck des Verdächtigen: Das hier war ein Verhaftungsfoto.
Überrascht über diese Absonderlichkeit stand Leo auf. Neste row betrat den Raum und warf einen Blick auf das Buch. »Was Bemerkenswertes?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Timur war Leos engster Kollege und Freund. Sie machten aus der Freundschaft, die sie zueinander entwickelt hatten, kein großes Gewese. Sie tranken nicht zusammen oder alberten herum und redeten noch nicht einmal viel miteinander, außer über die Arbeit. Eine Partnerschaft, die nicht viele Worte brauchte. Zyniker hätten gar Feindseligkeiten aus dem Verhältnis der beiden herausgelesen. Obwohl fast zehn Jahre jünger, war Leo jetzt Timurs Vorgesetzter, nachdem er zuvor sein Untergebener gewesen war und ihn förmlich mit »General Nesterow« angeredet hatte. Objektiv betrachtet hatte Leo mehr von ihrem gemeinsamen Erfolg profitiert. Manche Leute hatten auch angedeutet, er sei ein karrieresüchtiger und nur auf den eigenen Vorteil bedachter Einzelkämpfer. Aber Timur zeigte keinen Neid, ihm war der Rang Nebensache. Er war stolz auf seine Arbeit, konnte seine Familie versorgen, und nach endlosem Dahindümpeln auf irgendwelchen Wartelisten hatte man ihm bei seinem Umzug nach Moskau nun sogar eine moderne Wohnung mit fließendem Wasser und elektrischem Strom rund um die Uhr zugewiesen. Ganz gleich, wie das Verhältnis der beiden von außen gesehen wirken mochte, sie vertrauten einander auf Leben und Tod.
Timur machte eine Geste zum Betriebsraum hin, wo die gewaltigen Linotype-Maschinen standen wie riesige mechanische Insekten. »Die Söhne sind gerade gekommen.«
»Bring sie rein.«
»Obwohl die Leiche ihres Vaters noch im Raum ist?«
»Ja.«
Die Miliz hatte den Söhnen gestattet, nach Hause zu gehen, bevor Leo sie am Ort des Verbrechens hatte befragen können. Leo hatte nicht die Absicht, sich auf Informationen zu verlassen, die er aus zweiter Hand von der Miliz bekam, also würde er sich bei den beiden entschuldigen, dass sie ihren toten Vater noch einmal sehen mussten. Außerdem war er neugierig auf ihre Reaktion.
Die beiden Vorgeladenen Wsewolod und Awksenti, beide Anfang zwanzig, erschienen in der Tür.
Leo stellte sich vor. »Ich bin der Ermittlungsbeamte Leo Demidow. Mir ist klar, dass das .hier unangenehm für Sie ist.«
Keiner der beiden sah den toten Vater an, sie hielten ihre Augen auf Leo gerichtet. Der Ältere, Wsewolod, sagte: »Wir haben schon die
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