Kolyma
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Jona Radek. Cousin. Exekutiert
Leo erkannte ein System. Die Daten der Denunzierungen waren zufällig, mehrere fielen in ein und denselben Monat, dann kam mehrere Monate nichts. Die vermeintlich chaotischen Zeitsprünge waren in Wahrheit mit Bedacht gewählt und verrieten umsichtige Kalkulation. Den Cousin zu denunzieren war mit ziemlicher Sicherheit ein strategischer Schachzug gewesen. Moskwin musste sicherstellen, dass es nicht so aussah, als mache seine Loyalität zum Staat vor der eigenen Familie Halt. Der Cousin war geopfert worden, um dieser Liste ihre Glaubwürdigkeit zu verleihen und Moskwin vor der Anschuldigung zu schützen, er habe nur Leute verraten, an denen ihm persönlich nichts lag. Der Mann war ein Überlebenskünstler und so gar kein Kandidat für einen Selbstmord.
Als Leo die Daten und Orte von Moskwins diversen Tätigkeiten überprüfte, lehnte er sich plötzlich überrascht zurück. Moskwin war ja sogar ein Kollege von ihm gewesen, alle beide hatten sie vor sieben Jahren in der Lubjanka gearbeitet! Ihre Wege hatten sich allerdings nie gekreuzt, soweit Leo sich erinnern konnte. Leo war ein Ermittler gewesen, der Verhaftungen durchführte und Verdächtige beschattete. Moskwin war Wärter gewesen, der Gefangene transportierte und ihren Arrest überwachte. Leo hatte alles Erdenkliche unternommen, um sich von den Verhörzellen im Keller fernzuhalten, so als hätte er sich weismachen wollen, dass die Bodendielen ihn von den Dingen abschirmten, die da unten Tag für Tag vor sich gingen. Wenn Moskwin aus Schuldgefühlen Selbstmord begangen hatte, was hatte die dann nach all der langen Zeit so extrem hervorgerufen? Leo klappte die Akte zu und wandte seine Aufmerksamkeit dem zweiten Dokument zu.
Robert Eikhes Akte war dicker und schwerer, und auf den Umschlag hatte man GEHEIM gestempelt. Der Stapel war verschnürt, so als habe man etwas Giftiges darin festhalten wollen. Nervös wickelte Leo die Schnur ab. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor. Beim Überfliegen der Seiten sah er, dass Eikhe seit 1905 Parteimitglied gewesen war, also noch vor der Revolution und zu einer Zeit, als die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei unweigerlich Exil oder Exekution bedeutet hatte. Seine Akte war makellos, er war sogar Kandidat fürs Zentralkomitee des Politbüros gewesen. Trotzdem hatte man ihn am 29. April 1938 verhaftet. Ganz offensichtlich war dieser Mann kein Verräter. Dennoch hatte Eikhe gestanden. Das Protokoll befand sich in den Akten, Seite um Seite wurden seine antisowjetischen Aktivitäten ausgebreitet. Leo hatte selbst zu viele vorgefertigte Geständnisse entworfen, um hier nicht die Hand eines Agenten am Werke zu sehen. Alles gespickt mit den üblichen Phrasen im üblichen Stil seiner früheren Arbeitgeber, ein Versatzstück, das man jeden Beliebigen zu unterzeichnen hätte zwingen können. Als er weiter vorblätterte, entdeckte Leo die Unschuldserklärung, die Eikhe während seiner Gefangenschaft geschrieben hatte. Im Unterschied zu seinem Geständnis wirkten die Formulierungen hier menschlich und verzweifelt. In erbarmungswürdiger Weise überhäuften sie die Partei mit Lobpreisungen, beschworen die Liebe zum Staat und erwähnten nur mit ängstlicher Zurückhaltung die Ungerechtigkeit seiner Verhaftung. Beim Lesen verschlug es Leo den Atem.
Unfähig, die Folter zu ertragen, der mich Uschakow und Nikolajew unterzogen - besonders Ersterer, der wusste, dass meine gebrochenen Kippen nicht richtig verheilt waren, und mir große Schmerzen zufügte - sah ich mich gezwungen, mich selbst und andere zu bezichtigen.
Leo wusste, was als Nächstes kam. Am 4. Februar 1940 war Eikhe erschossen worden.
* * *
Raisa blieb stehen und betrachtete ihren Mann. Er war ganz in seine vertraulichen Dokumente versunken und nahm ihre Anwesenheit gar nicht wahr. Dieses Bild von Leo, wie er blass, angespannt und mit gekrümmten Schultern über irgendwelchen geheimen Akten hockte und das Schicksal anderer Menschen in den Händen hielt, hätte original aus ihrer unglücklichen gemeinsamen Vergangenheit stammen können. Die Versuchung war groß, so zu reagieren wie schon viele Male zuvor, wegzugehen und ihn zu ignorieren. Eine Woge schlimmer Erinnerungen kam über sie wie ein Übelkeitsanfall. Aber sie kämpfte gegen das Gefühl an. Dieser Mann war Leo nicht mehr. Und sie war auch nicht mehr in dieser Ehe mit ihm gefangen. Raisa trat vor, streckte den Arm aus und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
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