Kolyma
sich erst verdienen. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Woran arbeitete Ihr Vater gerade?«
Der Jüngere zuckte die Achseln. »Irgendein staatliches Dokument. Wir haben es nicht gelesen. Wir haben alle gesetzten Seiten vernichtet. Er war noch nicht fertig. Wir dachten, dass er vielleicht verzweifelt war, weil er schon wieder so ein schlecht produziertes Amtsblatt drucken musste. Die Vorlage haben wir verbrannt und den Zeilensatz eingeschmolzen. Es ist nichts mehr da. Das ist die Wahrheit.«
Leo gab sich noch nicht geschlagen. Er deutete auf die Setzmaschinen. »An welcher Maschine hat er gearbeitet?«
»An der da.«
»Zeigen Sie mir, wie sie funktioniert.«
»Aber wir haben Ihnen doch schon gesagt, dass wir alles vernichtet haben.«
»Bitte!«
Awksenti warf seinem Bruder einen verstohlenen Blick zu, offenbar bat er um dessen Zustimmung. Sein Bruder nickte.
»Die Maschine wird bedient wie eine Schreibmaschine. Da hinten fügt das Gerät die Matrizen der verschiedenen Lettern zusammen. Jede Zeile entsteht durch das Zusammenfügen der einzelnen Lettern und den Keilen für die Leerzeichen dazwischen. Wenn eine Zeile fertig ist, wird sie mit einer Mischung aus geschmolzenem Blei und Zinn ausgegossen, so entsteht ein Block. Die Blöcke werden dann in einem solchen Druckstock umbrochen, bis man eine ganze Textseite hat. Die wird dann mit mehreren anderen zu einem Bogen zusammengestellt, mit Druckerschwärze eingewalzt und das Papier darübergerollt. Damit ist der Text gedruckt. Aber wie gesagt, wir haben alle Seiten eingeschmolzen. Es ist nichts mehr da.«
Leo umrundete die Maschine. Seine Augen folgten dem Ablauf des mechanischen Prozesses, dem Aneinanderreihen der Matrizen auf der Zeile.
»Wenn ich tippe, dann werden also die Matrizen auf diesem Gitter hier aneinandergereiht?«, fragte er.
»Genau.«
»Ganze Textzeilen gibt es keine mehr, die haben Sie zerstört. Aber auf dem Gitter liegt noch eine halbe Zeile, eine, die nicht fertig gesetzt war.«
Leo deutete auf eine unvollständige Reihe von Matrizen.
»Ihr Vater war mitten in einer Zeile.«
Die Söhne spähten in die Maschine hinein. Leo hatte recht. »Ich will diese Worte drucken.«
Der Ältere der beiden fing an, Leerzeichen zu tippen. Er erklärte: »Wenn wir bis zum Ende der Zeile, bis zur festgelegten Spaltenbreite Leerzeichen einfügen, löst das automatisch den Gießvorgang aus.«
Als die Zeile voll war, presste ein Kolben geschmolzenes Metall in die Form, und ein schmaler rechteckiger Block fiel heraus. Es waren die letzten Worte, die Suren Moskwin gesetzt hatte, bevor er seinem Leben ein Ende bereitete.
Die gegossene Zeile lag auf der Seite, die Lettern wiesen von ihnen weg.
»Ist es heiß?«, fragte Leo.
»Nein.«
Leo griff sich die Zeile und stellte sie in den Druckstock. Er schwärzte die Oberfläche ein und legte ein Blatt weißes Papier darauf, dann rieb er darüber.
Am selben Tag
Leo saß am Küchentisch und starrte das Blatt Papier an. Nur vier Wörter waren von dem Dokument übrig, dessentwegen Suren Moskwin sich das Leben genommen hatte.
Unter Folter wurde Eikhe
Immer und immer wieder hatte Leo die Wörter gelesen, ohne die Augen abwenden zu können. Ohne jeden Zusammenhang wirkten sie geradezu hypnotisch. Leo durchbrach den Bann und schob das Blatt beiseite, dann nahm er seine Mappe und legte sie auf den Tisch. Darinnen befanden sich zwei geheime Dokumente. Um Einsicht in sie zu erhalten, hatte er eine Erlaubnis einholen müssen. An das erste, die Akte von Suren Moskwin, war er ohne Schwierigkeiten gekommen. Bei dem zweiten allerdings hatte es Fragen gegeben. Die zweite Akte, die er angefordert hatte, war über Robert Eikhe.
Als er den ersten Ordner aufblätterte, spürte er die Last der Vergangenheit dieses Mannes an der Anzahl der Seiten, die man über ihn angelegt hatte. Moskwin war ein Beamter der Staatssicherheit gewesen, ein Tschekist genau wie Leo. Er war viel länger dabei gewesen als Leo und hatte seinen Posten immer behalten, während Tausende anderer Beamter erschossen worden waren. Der Akte beigefügt hatte man eine Liste: Es waren die Namen derer, die Moskwin im Verlauf seiner Karriere denunziert hatte.
Nestor Jurowski, Nachbar.
Exekutiert Rosalia Reisner, Freundin.
Zehn Jahre Jakow Blok, Ladenbesitzer.
Fünf Jahre Karl Urizky, Kollege.
Wärter. Zehn Jahre
Neunzehn Jahre im Dienst, zwei Seiten von Denunzierten und an die hundert Namen. Und doch hatte er nur einmal ein Familienmitglied ans Messer
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