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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Fragen der Miliz beantwortet.«
    »Meine Fragen werden nicht lange dauern. Ist dieser Raum noch in dem Zustand, wie Sie ihn heute morgen angetroffen haben?«
    »Ja, alles ist so wie vorhin.«
    Das Reden übernahm ausschließlich Wsewolod. Awksenti blieb stumm, nur die Augen schlug er gelegentlich hoch. Leo fuhr fort. »Stand da auch dieser Stuhl vor dem Tisch? Vielleicht ist er ja bei einem Kampf umgestoßen worden.
    »Was für ein Kampf?«
    »Zwischen Ihrem Vater und dem Mörder.«
    Schweigen. Leo fuhr fort.
    »Der Stuhl ist kaputt. Wenn man sich auf ihn gesetzt hätte, wäre er zusammengebrochen. Ist doch komisch, dass jemand einen kaputten Stuhl vor seinem Schreibtisch stehen hat. Man kann gar nicht darauf sitzen.«
    Die beiden Söhne warfen einen Blick auf den Stuhl. Wsewolod antwortete. »Haben Sie uns nur noch einmal kommen lassen, um über einen Stuhl zu reden?«
    »Der Stuhl ist wichtig. Ich glaube, dass Ihr Vater ihn dazu benutzt hat, sich zu erhängen.«
    Eigentlich war es eine groteske Behauptung. Sie hätten empört sein sollen, doch sie blieben stumm. Leo spürte, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte, und fuhr mit seiner Theorie fort.
    »Ich glaube, dass Ihr Vater sich erhängt hat, vielleicht von einem der Deckenbalken in der Druckerei. Er hat sich auf den Stuhl gestellt und ihn dann weggetreten. Sie beide haben heute Morgen die Leiche gefunden. Sie haben ihn hierhergeschleift und den Stuhl wieder aufgestellt, ohne zu bemerken, dass er beschädigt war. Einer von Ihnen oder vielleicht auch Sie beide haben ihm die Kehle durchgeschnitten in dem Bemühen, die Abschürfungen durch die Schlinge zu vertuschen. Das Büro haben Sie dann so hergerichtet, als sei eingebrochen worden.«
    Die beiden waren vielversprechende Studenten. Der Selbstmord ihres Vaters konnte ihre akademische Laufbahn beenden und all ihre Aussichten zerstören. Selbstmord, versuchter Selbstmord, Depressionen, selbst eine Andeutung darüber, dass man nicht mehr leben wollte - all das wurde als Verunglimpfung des Staates interpretiert. Selbstmord hatte ebenso wenig wie Mord einen Platz in der Entwicklung zu einer besseren Gesellschaft.
    Die Söhne wogen offensichtlich ab, ob es oder ob es nicht möglich war, die Beschuldigung abzustreiten.
    Leo sprach leiser weiter. »Eine Autopsie wird erweisen, dass seine Wirbelsäule gebrochen ist. Ich muss seinen Selbstmord ebenso rigoros verfolgen, wie ich den Mord an ihm verfolgen würde. Woran ich interessiert bin, ist der Grund für den Selbstmord, nicht Ihr verständlicher Wunsch, ihn zu vertuschen.«
    Der jüngere Sohn, Awksenti, machte zum ersten Mal den Mund auf und antwortete. »Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten.«
    Der junge Mann fuhr fort. »Ich habe seinen Körper vom Strick genommen. Da ist mir klar geworden, was er für unser Leben angerichtet hat.«
    »Haben Sie irgendeine Ahnung, warum er sich umgebracht hat?«
    »Er hat getrunken. Er hat unter seiner Arbeit gelitten.«
    Sie sagten die Wahrheit, doch es war nicht die ganze Wahrheit, ob nun aus Ahnungslosigkeit oder Berechnung. Leo fühlte ihnen weiter auf den Zahn. »Ein fünfundfünfzigjähriger Mann bringt sich nicht um, weil seine Leser Druckerschwärze an den Fingern haben. Ihr Vater hat schon viel Schlimmeres überlebt.«
    Der Ältere wurde wütend. »Vier Jahre habe ich dafür studiert, Arzt zu werden. Alles umsonst, kein Krankenhaus nimmt mich jetzt mehr.«
    Leo führte sie aus dem Büro hinunter in die Druckerei, weg vom Anblick der Leiche ihres Vaters.
    »Sie haben sich erst morgens Gedanken gemacht, als Ihr Vater noch nicht nach Hause gekommen war. Sie haben also damit gerechnet, dass er lange arbeiten würde, sonst wären Sie ja gestern Abend schon besorgt gewesen. Wenn das aber der Fall war, warum gibt es keine gesetzten Seiten, die gedruckt werden sollten? Hier sind vier Linotype-Setzmaschinen. Aber es wurde keine einzige Seite gesetzt. Nichts deutet darauf hin, dass hier gearbeitet wurde.«
    Sie traten an die riesigen Maschinen heran. Vorne befand sich eine Setzmaschine, die an eine Schreibmaschine erinnerte. Leo wandte sich wieder an die Söhne.
    »Sie könnten im Augenblick gut einen Freund gebrauchen. Einfach ignorieren kann ich den Selbstmord Ihres Vaters nicht. Ich kann aber meine Vorgesetzten bitten, dafür zu sorgen, dass seine Tat nicht Ihre Laufbahn behindert. Die Zeiten haben sich geändert. Die Fehler Ihres Vaters müssen nicht unbedingt auf Sie zurückfallen. Aber meine Hilfe müssen Sie

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