Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
dass so alle ihre Spuren gleich wieder verwischt wurden. Und hoffentlich auch die Spuren an der Leiche, die darauf hindeuteten, dass der Tote transportiert worden war.
Sie hatten mehr als eine Stunde gebraucht, bis sie einen passenden Platz gefunden hatten, an dem die Leiche nicht gleich entdeckt werden würde, an dem aber in nicht allzu ferner Zukunft die Hunde irgendwelcher Wanderer auf sie stoßen würden. Bis dahin war hoffentlich so viel Zeit vergangen, dass die technischen Spuren zerstört oder wenigstens unbrauchbar waren. Andererseits sollte auch nicht zu viel Zeit vergehen, um nicht zu viele Steuergelder auf die Fahndung nach Folkestad zu verschwenden. Harry hatte fast lachen müssen, als ihm klargeworden war, wie wichtig ihm dieser letzte Punkt war. Er war trotz allem ein Produkt seiner Erziehung, hatte die sozialdemokratische Gehirnwäsche hinter sich und war zu einem Rudeltier mutiert, dem es fast physisches Unwohlsein verursachte, nachts das Licht brennen zu lassen oder Plastik in die Natur zu werfen.
Der Pastor war mit seiner Predigt fertig, und ein Mädchen – eine Freundin von Oleg – sang von der Galerie Dylans »Boots of Spanish Leather«. Harrys Wunsch, Rakels Segen. Die Ansprache des Pastors hatte mehr von der Bedeutung der Zusammenarbeit in einer Ehe gehandelt und weniger von der Anwesenheit Gottes. Und Harry dachte daran, wie sie Folkestad aus den Abfallsäcken gewickelt und ihn so hingelegt hatten, wie es natürlich für einen Mann war, der sich im Wald stehend eine Kugel in die Schläfe gejagt hatte. Harry würde Rakel niemals fragen, warum sie die Pistolenmündung auf Arnolds rechte Schläfe gedrückt hatte, statt ihm in den Hinterkopf oder Rücken zu schießen. Neun von zehn anderen hätten das sicher so gemacht.
Vielleicht hatte sie Angst gehabt, dass die Kugel seinen Körper durchschlug und auch noch Harry traf, der hinter ihm auf dem Boden hockte.
Aber vielleicht hatte ihr blitzgescheites, praktisch veranlagtes Gehirn schon in diesem Moment berücksichtigt, was hinterher geschehen musste. Dass sie den Vorfall kaschieren mussten, wenn sie davonkommen wollten. Die Wahrheit umschreiben. Zu einem Selbstmord. Es konnte sein, dass die Frau an Harrys Seite zu der Erkenntnis gekommen war, dass Selbstmörder sich nicht aus einem halben Meter Entfernung in den Hinterkopf schossen. Wohl aber – wenn man wie Folkestad Rechtshänder war – in die rechte Schläfe.
Was für eine Frau. Über die er so viel wusste. Und auch wieder nicht. Das hatte er realisiert, als er sie in Aktion gesehen hatte. Nachdem er Monate mit Arnold Folkestad zugebracht hatte und mehr als vierzig Jahre mit sich selbst. Wie gut kann man einen Menschen eigentlich kennen?
Das Lied war zu Ende, und der Pastor hatte mit dem Wesentlichen begonnen. »Willst du sie lieben und ehren …?«, aber er und Rakel ignorierten die Regieanweisungen und standen noch immer einander zugewandt da. Harry wusste, dass er sie nie wieder loslassen würde, wie verlogen das jetzt auch sein mochte und wie unmöglich, einen Menschen bis zum Tode zu lieben. Er hoffte, dass der Pastor bald die Klappe hielt, damit er endlich das Ja aussprechen konnte, das schon so lange in seiner Brust jubelte.
Ståle Aune zog das Taschentuch aus seiner Brusttasche und reichte es seiner Frau.
Harry hatte gerade »Ja« gesagt, und der Klang seiner Stimme hallte noch unter dem Kirchengewölbe wider.
»Was soll ich damit?«, flüsterte Ingrid.
»Du weinst, Liebling«, flüsterte er.
»Nein, du weinst.«
»Wirklich?«
Ståle Aune legte einen Finger auf seine Wange. Verdammt, er weinte tatsächlich. Nicht viel, aber genug, um nasse Flecken im Taschentuch zu hinterlassen. Er weinte keine richtigen Tränen, sagte Aurora immer, nur dünnes, unsichtbares Wasser, das plötzlich an seinen Nasenflügeln herunterlief, ohne dass jemand um ihn herum den Auslöser dafür mitbekommen hätte, den Punkt in dem Film oder Gespräch, der ihn so angerührt hatte. Es war, als brenne in ihm unvermittelt eine Sicherung durch, woraufhin es kein Halten mehr gab. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er hätte jetzt gerne Aurora an seiner Seite, aber sie nahm an einem zweitägigen Turnier in der Nadderud-Halle teil und hatte ihm gerade eine SMS geschickt, dass sie das erste Spiel gewonnen hatten.
Ingrid zog Ståles Schlips zurecht und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er strich über ihre Finger und wusste, dass sie wie er an ihre eigene Hochzeit dachte.
Der Fall war
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