Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Flurs.
Als ihm plötzlich die weißen Blüten des Magnolienbaums ins Gesichtsfeld kamen, stockte ihm das Herz. Es war vollständig dunkel, eine wohl temperierte Stille umschloss die Nacht. Auf Max’ Gesicht stand der friedlich freie Ausdruck der Erleuchteten, sein Rollstuhl schimmerte im Mondschein. Samson nahm Haltung an. Verlegen um eine passende Geste, strich er sich über die Knie und ging zu Boden. Er begann um den Baum herumzukriechen, als bewegte er sich über das dünne Eis eines kaum zugefrorenen Teiches. Ein leicht fauliger Geruch stieg ihm in die Nase, etwas Verrottetes, das von den abgefallenen Magnolienblüten oder vom dichten Gras herrührte.
Bei dem Hund schien es keinen Grund gegeben zu haben, die Stelle zu markieren. Die Magnolie reichte aus, um die Erinnerung jeden Frühling mit der ersten Blüte wachzurufen, ein weißes, wachsendes Echo. Aber bei einem Menschen? Sicher verlangte dessen letzte Ruhestätte irgendein Denkmal, so bescheiden es auch sein mochte. Er hielt die Taschenlampe in einer Hand und tastete mit der anderen den Boden ab. Er machte eine ganze Runde um den Stamm, fand aber nichts und wollte gerade aufgeben, als das matte Licht auf eine Inschrift in der Rinde fiel. Er ging mit dem Gesicht heran. In dicken, tiefen Kerben waren ihre Initialen eingeritzt: B.S.G. Keine Daten oder Epigramme, nur die ungeschmückten Fakten, und augenblicklich war ihm klar, dass sie ihn darum gebeten haben musste – irgendwann bevor sie starb, in einem klaren Moment des von Schmerzen geschärften Bewusstseins, musste sie ihm den Auftrag gegeben haben, sie in ihrem eigenen Garten zu begraben, ohne Zeremonie, befreit von der Maßlosigkeit des Todes. An einem vertrauten Platz, unter der Magnolie, die – natürlich, wie konnte er das vergessen haben? – immer ihr Lieblingsbaum gewesen war. An einem Ort, wo ein Mann, ein zweiter Cary Grant in strahlend weißem Anzug, wenn er je auf der Suche nach ihr vorbeikäme, sie auch finden könnte.
Max war anderswo, das Gesicht himmelwärts erhoben wie das eines Kindes im Schneesturm.
Samson zog die Objektträger heraus und reihte sie im Gras auf. Mit beiden Händen begann er ein Loch zu graben, und als es tief genug war, warf er sie hinein und bedeckte sie mit Erde. Erschöpfung übermannte ihn. Er legte den Kopf ins Gras, presste den Körper flach an den Boden. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, tot zu sein. Tag und Nacht reglos unter der Magnolie zu liegen, vom Regen gewaschen, bis er selbst zu Wetter wurde. Er stellte sich vor, es sei dies seine Heimat für die Ewigkeit, unter ihm seine Mutter, über ihm das atmende schwarze Himmelszelt.
Irgendwo viele Kilometer entfernt, mitten in der Wüste, zeichnete ein Mann Erinnerungen auf, um sie zu bewahren, wie einst in einer anderen Wüstenluft Pergamentrollen aufbewahrt worden waren. Er legte eine umfangreiche Sammlung menschlicher Erinnerungen an, und damit sie nicht verloren ging – nicht vom Feuer verzehrt wurde oder sich in Staub und Licht auflöste –, lernte er, die Erinnerungen an den einzigen Ort zu übertragen, wo sie sicher überdauerten: in die Gehirne anderer Menschen. Ein rein wissenschaftliches Projekt, aber im Vertrauen sagte er, er glaube, den Schlüssel zum menschlichen Mitgefühl entdeckt zu haben. Wie man in die Haut eines anderen schlüpft. Er glaubte, er habe einen Weg gefunden, um wahre Empathie einzuflößen, ein Gefühl kosmischer Zugehörigkeit, und in absehbarer Zukunft könnten Menschen gegen Entfremdung immunisiert werden, wie sie einst gegen Pocken oder Kinderlähmung geimpft worden waren. Ja, der Gefahren sei er sich bewusst. Aber welches Wissen nicht auch für größere Dummheiten, größere Übel benutzt werden könne, fragte er, und wenn wir uns von solchen Befürchtungen aufhalten ließen, wo wären wir dann? Menschliches Wissen schreite nun einmal fort, angetrieben von seiner unvermeidlichen Eigendynamik. Wenn man sich nicht selbst an die Spitze setze, tue es jemand anders. Dieser Mann, ein Doktor, tat, was er zu tun hatte.
Und irgendwo geschah es, dass ein anderer alles vergaß, was er einmal gewusst hatte, den Geist eines alten Lebens aufgab und eine neue Leere betrat. Ein Mann auf halber Strecke seines Lebens, der sein Buch umgedreht auf den Tisch legte, um eine Ecke ging und in die Zukunft verschwand. Und der Doktor hörte von diesem Mann. Als die Zeit reif war, rief er ihn an. Und der Mann, der alles vergessen hatte, sogar seine eigene Frau, kam zu ihm.
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