Kommt Schnee
Baumer, was ihm während der Vernehmung immer wieder durch den Kopf gegangen war. Warum war der Mann nicht geflüchtet? Mit seinem Schwert konnte Toni nur eine Person gleichzeitig bedrohen. Der Schütze hätte abhauen können, wie alle anderen Gäste. Warum blieb er sitzen? Warum schoss er überhaupt? Warum schrie er Toni nicht einfach an: Waffe weg, sonst knallt’s! Warum griff er noch ein, als das Mädchen sich von Toni bereits gelöst hatte und Baumer eine echte Chance bekam, das Mädchen zu befreien?
»Vielleicht hätte ich Toni entwaffnen können«, sagte Baumer mehr zu sich als zu Heinzmann.
»Hast du Windler gesagt, was du von dem sauberen Businessmann hältst?«
»Nein. Unser Schütze ist ein Held. Befreit eigenhändig eine Geisel. Stell dir vor, ich verhöre diesen Helden. Die Presse würde uns sofort angreifen, dass wir von unseren Fehlern ablenken wollen. Du weißt, wie die Mistblätter Kampagnen durchziehen.«
»Ich weiß, wie die Mistblätter Kampagnen durchziehen.«
Stefan Heinzmann wusste es nur zu gut. Wenn ein Revolverblatt einen Neger bräuchte, würde der Chef den ungeliebten Kommissar Baumer ohne mit der Wimper zu zucken zum Abschuss freigeben.
»Der Fall ist klar«, fuhr Baumer energisch fort. »Ein Junkie teilt einen zufälligen Dummen in zwei Teile. Der Mörder wird selbst erschossen. Dass dieser Mörder ein junger Mensch ist, ist egal. Es ist ein Mörder, der hat seine Strafe verdient. Saubere Sache.«
»Für das Publikum ist das Gerechtigkeit. Ende der Durchsage.«
»Ja. Und was überhaupt das Wichtigste ist, auch für Windler ist das eine saubere Sache. Fall abgeschlossen. Deckel drauf. Jetzt geht es nur noch darum, dass keiner die Polizei ...«
»Sprich Windler«, fiel Stefan Heinzmann seinem Freund ins Wort.
»Sprich Windler«, fuhr Baumer fort, »... dass also keiner Windler doch noch irgendwie dumm anmacht und kritische Fragen stellt. Wenn dieses gepuderte Arschloch jetzt aber doch noch Druck bekommt, zieht er mir den Fall garantiert ab. Dann habe ich keine Chance mehr, mich einmal nett mit dem lieben Ballermann zu unterhalten.«
Heinzmann war über die Heuwaage gefahren und bog kurz nach dem Haupteingang des Zoos Basel in die Shell Tankstelle mit dem 24-Stunden-Laden ein. Obwohl er nicht tanken musste und obwohl es freie Parkplätze gab, hielt er neben einer unbesetzten Tanksäule an. »Bleib sitzen«, hieß er Baumer zu warten, als er den Motor stoppte und die Handbremse mit einem Ratsch anzog. Dann stieg er aus.
Heinzmann war Polizist mit Leib und Seele. Nach der gemeinsamen Militärzeit mit Baumer hatte er sich die Lehre mit der kürzesten Lehrzeit ausgesucht – Rollladenmonteur. Das hatte er gemacht, weil er immer schon zur Polizei wollte und für diese Ausbildung den Nachweis einer Lehre brauchte. In der Polizeirekrutenschule traf er seinen Kumpel Baumer wieder, der ein Vordiplom der Universität in Psychologie – damals das leichteste Studium überhaupt – absolviert hatte und damit nun ebenfalls sein Eintrittsbillett in die Polizei einlöste. Heinzmann war seither Polizist. Er war ein Macher, der die Kühle der Nacht liebte. Seit seine Frau ihn verlassen hatte – wann war das, vor 17 Jahren? – machte er nur noch Nachtschicht.
Baumer und sein Freund hatten eine ähnliche Statur. Heinzmann war ebenso wie der Kommissar sportlich geblieben. Er war aber ein wenig größer als Andi Baumer und durch seine Uniform erschien er immer auch ein wenig bulliger als der Kommissar, der nie Uniform trug und sowieso gar keine mehr besaß. Heinzmann hatte wie Baumer kurz geschnittene Haare. Seine waren hellbraun und mit feinen Silberfäden durchsetzt. Sie sahen aus wie ein verrupfter, gesprenkelter Teppichboden. Den zeigte Heinzmann allerdings selten, denn er trug immer seinen Polizeideckel, der ihm wie auf den Kopf geschweißt festsaß und der den Blick nur auf die kurzen stoppeligen Haare um die Ohren und im Nacken frei gab.
Baumer sah durch die Frontscheibe, wie sein Freund zum Tankstellen-Shop schlenderte. Er sah noch, wie Heinzmann durch die automatische Tür in den Laden trat – ein kleiner Italo, der eigentlich Vortritt gehabt hätte, war verschreckt vor dem Polizisten zurückgewichen – dann schloss er die Augen und rutschte sogleich weg.
Er träumte den Traum, den er so oft träumte. Er stand am Fensterbrett im ilcaffè und schaute auf den Bürgersteig und die Straße vor der Kaffeebar. Er war einsam und traurig. Dann stand sie vor ihm. Die Frau aus der Tram der
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